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Buddhistische Gelassenheit auf 5300m. Wir sind ständig auf der Suche nach Dingen, die uns glücklich machen. Die nächsten Ferien, ein Auto, das neue Haus, eine neue Partnerschaft. Und wir tauschen die Dinge schnell aus, von denen wir denken, sie machen uns unglücklich. Egal ob das der Partner oder ein Kleidungsstück ist. Wir greifen nach allem, was wir wollen. Wir denken, wenn wir reicher, dünner, jünger, spontaner, geschiedener, fitter, verheirateter oder schwanger sind, sind wir glücklicher (interpretiert aus dem Tibetischen Bön Buddhismus).

Jullee! Willkommen! Das Abenteuer Ladakh kann beginnen. Frühmorgens landen wir in dieser kargen Mondlandschaft auf 3500m in Leh, der Hauptstadt des ehemaligen Königreichs Ladakh. Die ersten Schritte fallen schwer. Die Höhe macht sich sofort bemerkbar. Die klare, dünne Luft wirkt wie eine Droge. Ungewollt fangen wir an zu lachen. Und das geht allen so. Alle sind gut drauf. Es gibt ja auch keinen Grund unzufrieden zu sein. Wir sind über den Himalaya geflogen, um in der Stein- und Eiswüste einen der härtesten Ultraläufe zu bestreiten. Was kann es Schöneres geben? Wir, das sind Kai und ich. Erfahren in den Bergen, erfahren im Ausdauersport. Das ist jetzt aber erst einmal alles vergessen. Hier oben beginnen wir bei Null. Werden wir unser Glück finden?

Adaption auf über 3000 Metern. Die Vorbereitung auf den Tag X verläuft alles andere als optimal. Probleme bei der Höhenanpassung, Zahnschmerzen und sogar das Wetter spielt etwas verrückt. Im sonst so trockenen Ladakh gibt es für die Jahreszeit ungewöhnliche Niederschläge. Nach zwei Wochen Klöster besichtigen, Mountain biken, Bergsteigen und Erholen sind wir dann schlussendlich aber doch bereit für das Laufabenteuer. Wir haben viel über die Kultur und das Leben der Ladakhi erfahren. Nicht zuletzt dank Rigzin, unserem Bergführer. Seine ruhige Art und Ausstrahlungskraft hat sich auf uns übertragen. Er hat sich übrigens kurzfristig eine Woche vor dem Lauf auch entschieden, teilzunehmen. Andere haben die letzten Monate hart trainiert, er macht das mal so aus dem Stehgreif. Und soll am Ende als 10. die Ziellinie überqueren.

Neben vier weiteren Ausländern unter den total 82 Startern bei der Ausgabe 2016 geht es am Vortag des Laufs in Kleinbussen zum Startort Khardung. Die Fahrt über den Pass verlangt einiges mehr an Nerven als der Lauf. In Khardung auf 4200 Metern ü.M.  stehen für die Teilnehmer Zelte bereit. Es gibt auch die Option auf Homestay bei einer Ladakhi Familie. Wir entscheiden uns für die vermeintlich ruhigere Variante, das Zelt. Homestay bedeutet: fünf bis sechs Personen in einem Raum auf Matratzen am Boden. In den Zelten sind wir zu zweit. Beides selbstverständlich mit indischer Geräuschkulisse. Und die kann es in sich haben.

Zur Khardung La Challenge im Rahmen des Ladakh Marathons gibt es das unterhaltsame Buch von Konrad Smolinski Laufabenteuer in Ladakh. Er schildert seine Eindrücke aus Ladakh, die Vorbereitung und den Wettkampf in den Jahren 2017 und 2019. Lesenswert! Über folgenden Link kannst du das Buch bestellen.

Die Veranstalter haben bei der Verpflegung der Teilnehmer auf deftige Kost gesetzt. Beim Nachmittagstee werden neben Biskuits auch schon reichhaltige Samosa und Pakhora (frittiertes Gemüse) serviert. Alles nehmen, was du kriegen kannst vor der Anstrengung des nächsten Tages. Vor dem Abendessen stehen dann überraschend noch zwei, lass mich sagen Mediziner mit dem Oxymeter bereit. Sauerstoffsättigung im Blut messen. Einige werden da schon unruhig. Teilnehmer mit zu niedrigen Werten sollen aussortiert werden. Und siehe da, prompt weist der erste Kandidat einen Wert von 56% Sauerstoff im Hämoglobin auf. Tot. Bereits Werte unter 70 gelten als absolute Lebensgefahr. Erstaunlicherweise haben wir den Kandidaten später nach Zieleinlauf wieder getroffen. Er hat teilgenommen. Das Messgerät war vermutlich noch nicht auf Betriebstemperatur. Bei uns bewegen sich die Werte im Rahmen. Alles gut. Weiter zum Carboloading. Abendessen. Suppe, Dhal, Gemüse, Reis, Chicken Curry, Chapati, Früchte. Alles überlebensnotwendige und in rauen Mengen wird aufgetischt. Gut genährt fallen wir früh ins Zelt. Unsere indischen Nachbarn finden leider so schnell noch keine Ruhe und pflegen ihre Konversation auch gern zeltübergreifend. That’s part of the game!

Und so brauchen wir auch keinen Wecker. Etwas zu früh, gegen 1.30 Uhr nachts wachen die ersten auf und beginnen die Unterhaltung dort, wo sie vor ein paar Stunden aufgehört haben. Auch wenn wir gern noch eine Stunde geschlafen hätten, bleibt nichts weiter, als ihnen zuzuhören. Der Singsang der Inder klingt schon lustig. Für uns absolut abstrakt. Im Dunklen kann man sich das Wiegen der Köpfe bei jedem Satz da nur vorstellen.

Nach dem nächtlichen Frühstück stehen wir um kurz vor 3 Uhr an der Startlinie. Alle angespannt und aufgeregt bis in die Haarspitzen. Bewaffnet mit Trinkrucksäcken, Stirnlampen und Verpflegung. Bereit für das Ungewisse. Es gibt nur wenige Wiederholungstäter. Selbst für die Inder sind die Anreise hierher und die Bedingungen so speziell, das dieser Lauf nur einmal auf der Liste steht. Die Topläufer und Sieganwärter kommen aus Ladakh und kennen die Strecke. Der spätere Sieger hat sie im letzten halben Jahr vor dem Lauf bereits fünf Mal absolviert.

Wettkampf. Pünktlich um 3 Uhr kommt bei angenehmen Temperaturen um die fünf Grad Celsius das Signal zum Go. Einen Startschuss vermisst man hier. Dieser ist im militärisch stark abgesicherten Gebiet zwischen Pakistan, Indien und China nicht erlaubt. Und sicher auch der Uhrzeit geschuldet. Nicht alle Bewohner des kleinen Ortes interessieren sich für die Laufverrückten. Sie geniessen lieber ihren Schlaf. Daran denkt jetzt aber keiner der Teilnehmer. Im Laufschritt geht es die ersten paar hundert Meter los. Doch schon bald steigt die Strasse moderat an und wir verfallen in ein schnelles Gehen. Die Strategien wurden im Vorfeld unter den Läufern bereits ausgetauscht: bergan gehen, vor und nach dem Pass sogar eher langsam und bergab Richtung Ziel rennen. Nur ein paar wenige der Spitzengruppe sahen das anders und rannten die gesamte Strecke. Spielverderber. Für die war der Lauf dann auch bereits nach knapp sieben Stunden vorbei. Selbst schuld. Sie hätten auch länger etwas davon haben können!

Nach etwa 20 Kilometer die erste Verpflegungsstelle. Von der Ladefläche eines Allradfahrzeugs werden gekochte Kartoffeln, Trockenfrüchte, Salz, Bananen, Wasser und Milchtee gereicht. Deftig, aber genau das richtige für diese Art von Lauf. Wir befinden uns jetzt in einer Höhe um die 4600 Meter. Was uns am meisten auffällt: alle paar Kilometer müssen wir einen Pinkelstopp einlegen. Hier schwitzt man nicht, die Flüssigkeit muss aber irgendwie raus. Und das ist für Männlein und Weiblein gleich. Bei uns ist das noch relativ einfach in der kargen Landschaft Wasser zu lassen. Die wenigen weiblichen Starter schildern uns nach dem Lauf ihre abenteuerlichen Erlebnisse dazu. So viele Beobachter sind auf der für den Verkehr eignes abgesperrten Strasse dann aber auch nicht unterwegs.

Vor der Passhöhe steigen dann die ersten Teilnehmer vorzeitig aus. Mit Sauerstoffmasken sitzen sie in den Supportfahrzeugen und werden ärztlich betreut. Einige haben einfach zu wenige Tage in der Höhe verbracht und sind nicht bereit für eine solche Anstrengung. Am Folgetag treffen wir eine indische Teilnehmerin, die mir ganz stolz berichtet, dass sie vor einem Jahr noch 20 Kilogramm schwerer war und vor neun Monaten mit Laufen begonnen hat. Als Einsteiger hätte ich mir da sicher einen anderen Event ausgesucht. Sie musste die Khardung La Challenge auf der Passhöhe aufgeben. Es war aber nichts von Resignation zu spüren. Sie war voll überzeugt: im nächsten Jahr starte ich wieder hier und werde den Lauf zu Ende bringen. Toller Optimismus. Hut ab!

Ab 5000 Meter Höhe werden die Knie dann weich. Das Gehen fällt schwer. noch schlimmer ist aber stehen bleiben. Dann stellt sich ein Schwindelgefühl ein. Es ist, als würde man seitlich einfach umfallen. Also in Bewegung bleiben. Ein kurzer Versuch zu rennen stellte sich als koordinativ hilfreich heraus. Der fehlende Sauerstoff in der Luft setzte dem ein jähes Ende. Rennen geht nicht. nach 5 Stunden und 31 Kilometern erreichen wir die Passhöhe auf 5360 Meter. Einerseits wussten wir, auf dem Pass haben wir den Anstieg geschafft, der mental schwierigste Teil liegt aber noch vor uns.

Nach dem obligatorischen Foto vor den Gebetsfahnen und der Höhentafel am Pass ging es im Schritttempo weiter. Auch das Bergablaufen geht in der Höhe nicht wirklich. Die Knie sind immer noch weich. Die Luft ist klar und dünn. Die Sonne ist bereits aufgegangen und wärmt sofort. Bereits kurz nach der Passhöhe kann man schon den Zielort Leh sehen. Das macht es im Kopf noch schwieriger. Die Strecke geht von hierab nicht direkt dorthin, sondern verwinkelt durch Seitentäler. Jetzt sind es noch 41 Kilometer. Auf dem Weg sind wir längst allein. Das Starterfeld hat sich auf 72 Kilometer schnell auseinandergezogen. Ab und an treffen wir auf andere Läufer an Verpflegungsposten oder wir werden überholt. Die Organisation ist sehr bemüht, dass alle Starter top verpflegt sind. Mit Allradfahrzeugen wird die Strecke pausenlos abgefahren und jeder gefragt, ob er noch etwas benötigt. Sehr gute Betreuung vom Start bis ins Ziel. Und selbst die Knoblauchsuppe, die es an einem Verpflegungspunkt gab, war bewusst gewählt. Knoblauch hilft in hohen Gefilden. Erstaunlich gut bekömmlich war sie auch. Aber das war eigentlich alles, was wir geboten bekamen.

Je tiefer wir kommen und je näher es auf den Mittag zugeht, umso wärmer wird es. Die Sonne hat volle Angriffsfläche. Schatten gibt es keinen. Also wirklich KEINEN. Die Täler sind so weit und Bäume sind Fehlanzeige. Flüssigkeitsverlust ausgleichen heisst es. Permanent Wasser trinken. Und lassen. Das Wechselspiel sollte bis zum Ende nicht aufhören. Wir können nicht beziffern, wie oft wir und der Flüssigkeit entledigt haben.

Ab Kilometer 60 wurde es dann nochmal hart. Die Stadtgrenze haben wir erreicht. Das Ziel scheint so nah. Es sind aber noch 12 Kilometer mehr. Eine Zahl, die uns sonst nie vor grosse Herausforderungen stellt. Plötzlich scheint das unmachbar. Wie schon auf der gesamten Strecke sind auch hier keine Zuschauer, die anfeuern und damit das Laufen etwas erleichern. Es ist nun brutal warm. Knapp dreissig Grad Celsius. Die Euphorie und das nahe Ziel beflügeln allerdings. Innerhalb der cut off time überqueren wir die Ziellinie. Im Zielraum ist dann Trubel. Die Läufer, Betreuer, Mediziner, ein Fernsehteam, Fotografen – alle überglücklich und gleichzeitig am Ende. Jeder erzählt seine Erlebnisse, die Anstrengungen der letzten Stunden sind für kurze Zeit vergessen. Das Fernsehen bittet zu Interviews. Massage und medizinische Betreuung geben ihr Bestes.

Am Folgetag finden dann der Marathon und ein Halbmarathon statt. Anlass für uns, an der Strecke anzufeuern. Und dann erleben wir auch das Besondere an so einem Event in einem besonderen Land. Die Menschen möchten Fotos mit uns, fragen uns, wie der Lauf war, und ob wir wiederkommen. Viele lachende Gesichter, die lokale Band spielt und der Speaker begrüsst die Läufer im Ziel. Es ist die grösste Sportveranstaltung in Ladakh und die Läufer und Schulklassen aus den entferntesten Tälern sind angereist. Ein paar Ausländer sind am Start. Ansonsten alles Ladakhi, die vielleicht das erste Mal an so einem Lauf teilnehmen.

Und alle erfahren eben dieses Glücksgefühl, das wir nicht mit materiellen Dingen ersetzen können. In unserer Welt scheint jeder Einzelne unabkömmlich zu sein. Die wahren Werte zählen nicht mehr. Da ist es doch schön, an so einem Ort wie Ladakh wieder geerdet zu werden. Und das mit Sport zu verbinden, ist überhaupt das Grösste, was es gibt. Wir kommen wieder, nicht für Bestzeiten oder Qualifikationsplätze. Sondern einfach in die Kultur eintauchen und die Gesellschaft dieses friedlichen Volkes geniessen.

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