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Wo Himmel, Meer und epische Pfade gnadenlos aufeinandertreffen

Eine Runde um die Insel – Menorca at a glance sozusagen. 185 Kilometer misst der alte Reiterweg Cami de Cavalls im Total, der 2017 als Touristenattraktion wiederbelebt wurde. Seit nunmehr dreizehn Jahren gibt es bereits einen Laufevent auf diesem ruppigen Pfad in Küstennähe. Einmal um Menorca – zu Fuss, nonstop, über felsige Küstenpfade, durch duftende Pinienwälder, malerische, einsame Touristenorte und vorbei an abgelegenen Buchten – eine fantastische Idee. Mehr als siebzig Strände werden bei der Königsdistanz angelaufen. Der Trail Menorca Camí de Cavalls (TMCDC) ist einer der aussergewöhnlichsten Ultramarathons Europas. Es warten über 3.000 Höhenmeter und ein schier nicht endender Rundkurs im Uhrzeigersinn – ein echtes Abenteuer und der ultimative Test an Ausdauer, Läuferherz und mentale Stärke.

Für die komplette Distanz stehen den Teilnehmern zwei Zeitlimits zur Verfügung: 40 Stunden oder wenn man etwas mehr Herausforderung möchte, 34 Stunden. Challenge angenommen! Denn schliesslich bin ich für die kürzere Zeitdauer gemeldet. Das bedeutet einen Schnitt von knapp sechs Kilometer pro Stunde zu halten. Klingt nach lockerem Jogging. Wer sich auf Ultradistanzen auskennt weiss, dass bei solchen Entfernungen alles passieren kann. Wird die Zeit reichen? Was lauern für Überraschungen auf dem Weg? Werde ich es überhaupt schaffen? Es gibt nur eine Möglichkeit, es herauszufinden: packen wir es an!

Die Anreise erfolgt über die Nachbarinsel Mallorca. In dieser frühen Zeit der Saison, Anfang Mai fliegen nur weniger Fluggesellschaften Menorca direkt von europäischen Festland an. Von Mallorca aus gibt es stündlich Flüge oder auch Fährverbindungen. Da meine zweite Frühlings-Wahl-Heimat Alcudia mehrmals täglich eine direkte Fähre nach Ciutadella, dem Start- und Zielort der TMCDC bietet, entscheide ich mich für den Seeweg. Eine Stunde und zwanzig Minuten dauert die Überfahrt etwa. Der Fährterminal in Ciutadella liegt zwei Kilometer ausserhalb des Stadtzentrums. Perfekt für einen lockeren Nachmittagsspaziergang. Mit leichtem Gepäck reist es sich simpel. Ein Rucksack mit Laufequipment und das Allernötigste an Hygieneartikel, Wechselkleidung und das wars dann auch schon bald. Was wir meistens im Reisegepäck mitschleppen, sind unsere Ängste. In den vergangenen Jahren habe ich auf meinen Reisen gelernt, diese zu Hause zu lassen. So lässt es sich viel entspannter durch das Leben ziehen.

Eine historische Route wird zur Lauflegende

Als Domizil für das Laufwochenende dient ein kleines Hotel in der Altstadt von Ciutadella, nur zweihundert Meter von Start und Ziel entfernt. Auf eine Rezeption verzichten immer mehr dieser nur ein paar Zimmer umfassenden Boutique Herbergen. Ein Bildschirm, auf dem die wichtigsten Daten zur Person eingetippt werden, ein Scanner liest die ID oder den Pass und wie von Wunderhand klimpert aus einer Klappe ein Schlüssel heraus. Zimmer 17. Gibt ein so schmales Gebäude so viele Räume her? Mein Zimmer ist die steile Treppe hinauf unter dem Dach im dritten Stock. Alles mit viel Liebe restauriert und hergerichtet. Der überschaubare Raum mit viel Holz (Boden und Decke) und weiss getünchten Wänden strahlt Ruhe und Behaglichkeit aus. Sauber und mit sehr bequemen Bett ausgestattet, wirken die ersten Eindrücke bereits positiv. Einzig das Fenster ist mehr eine kleine Stall-Luke, ein Lüftungsloch. Das sollte aber genau richtig sein, wie sich später herausstellt, um den Lärm der durch die Gassen ziehenden Touristen von mir fernzuhalten.

Warum ich das so ausführlich schreibe? Weil die Umgebung, die letzten Stunden bis zum Start, die Atmosphäre, die Ruhe und das Gefühl vor so einer extremen Herausforderung immens wichtig sind. Hier in dieser Kemenate kann mich ungestört auf den Event einstellen. Nur eine Frage drängt sich mir auf: wie soll ich nach absolvierten 185 Kilometern diese steile Treppe zu meinem Zimmer heraufkommen? Ach, zur Not schlafe ich unten im Gang, bis sich jemand bereit erklärt, mich hochzuschleppen 😉.

Der Camí de Cavalls stammt aus dem vierzehnten Jahrhundert und diente einst der Verteidigung Menorcas. Per Ross wurde die Versorgung der Beobachtungsposten und Verteidigungsstellungen sichergestellt. Heute ist er ein offiziell markierter Fernwanderweg (GR 223), der einmal rund um die Baleareninsel führt. Beliebt bei Wanderern und Mountainbikern, die ihn während mehreren Tagestouren abarbeiten. Der TMCDC bietet die beste Gelegenheit, diese Route im Laufschritt zu erkunden. Es muss auch nicht gleich die überlange Strecke sein. Nicht weniger als sieben Distanzen stehen den Teilnehmern zur Auswahl. Ob auf den 185 Kilometern, der vollständigen Inselumrundung, oder auf Teilstücken an Süd- bzw. Nordküste über 100, 85, 58, 45, 27 Kilometer bis hin zum 11 Kilometer Short Trail, bleiben für jede Art von Trailrunning-Herzen kaum Wünsche offen. Insbesondere die Ultradistanzen eröffnen im wahrsten Sinne atemberaubende Einblicke in das UNESCO Biosphärenreservat Menorca.

Von Ciutadella nach Ciutadella – immer im Uhrzeigersinn

Gestartet wird auf dem Hauptplatz in der historischen Stadt Ciutadella. Vor jedem Start vollführen Reiter in traditionellen Kostümen ihre Kunststücke. Ich nutze meine späte Startzeit und schaue bereits bei der Besammlung der Läufer mit dem 40 Stunden Zeitlimit zu. Vor Betreten des Startbereiches wird stichprobenweise das Pflichtequipment geprüft. Es sind nur ein paar Dinge, die absolut notwendig sind, wie Rettungsdecke, Mobiltelefon eingeschaltet, Lampe mit Ersatzbatterien, rot-leuchtendes Rücklicht und einiges anderes. Die Nervosität ist hier bereits spürbar. Und sie steigert sich bis zum Startsignal für einige Läufer ins unendliche. Während die coolen Jungs gelassen dem Kommenden entgegenschauen, wippen andere aufgeregt mit den Füssen, Mundwinkel zucken, Blicke wirken unsicher. Hier geht es nicht um den Sieg. Der persönliche Triumph ist das Erreichen der Ziellinie. Die Zeit fliegt und schon macht sich die Meute auf den Weg.

Für mich bleiben sechs Stunden Ruhe, verpflegen, Sonne geniessen. Kleidung und Equipment sowie Wechselbeutel liegen im Zimmer längst bereit. Und dorthin begebe ich mich auch direkt nach einem üppigen Mittagsmahl. Ein letzter erholsamer Schlaf, bevor es auf die lange Reise geht.

Nervosität? Nein, dafür habe ich bereits zu viel erlebt. Ich muss mich im Vorfeld auch gar nicht damit auseinandersetzen und es herunterspielen. Während dieser ewigen Stunden da draussen in der Natur wird das ein oder andere Unvorhersehbare auf mich zukommen, ob ich vorher nervös bin oder nicht. In den Trainings habe ich vieles visualisiert und mir mentale Strategien zurechtgelegt. Und doch bleibt immer Raum für das Ungewisse. Und das ist es doch, warum ich mir das hier antue.

Jetzt aber genug des Vorgeplänkels. Lasst uns los, lasst uns frei – wir wollen doch nur spielen! Etwa zweihundert Laufgierige stehen im Startareal. Die Wechselbeutel sind in einem Kleinbus verstaut, Equipment Check habe ich mit Bravour gemeistert. Jetzt scharren die Hufe, nicht nur bei den Berittenen, die so langsam den Laufkanal nach dem Startbogen freigeben. Ich freue mich ungemein auf diese neue Herausforderung. Gut, so ganz neu ist sie gar nicht. Im vergangenen Jahr habe ich die ersten einhundert Kilometer absolviert und bin dann verletzungsbedingt ausgestiegen. Und das finale Stück an der Südküste kenne ich von verschiedenen Trainingsläufen. Dazwischen liegen noch einige Kilometer, die es zu erkunden gilt. Viel wichtiger als die Auseinandersetzung mit der Strecke wird allerdings die mit mir selbst. Dieser Weg zu mir selbst. Ein Ultralauf ist eine Reise in die Tiefen des Geistes und des Körpers. Da gibt es oft mehr zu entdecken, als Ergebnisse oder Bilder eines Events ausdrücken oder versprechen.

Auf los geht’s los!

Endlich, 15.30 Uhr am Freitagnachmittag erfolgt der Start! Vorbei am Hafen, an einer Spalier stehenden Menschenmenge – ein Mix aus Angehörigen der Läufer, die uns motivierende spanische Floskeln entgegenwerfen und Touristen, denen einzig ein Kopfschütteln ob der unglaublichen Challenge zu entlocken ist – verlassen wir die Stadt auf asphaltierten Wegen zügig. Die ersten sechs Kilometer laufen sich angenehm, bevor es auf die teils unwegsamen Trails geht. Von Beginn an höre ich auf meinen Körper und cruise entspannt diese Strassenpassage ab. Nicht zu schnell angehen. Das ist es, was unter Endorphin Ausschüttung beim Start eines Rennes oft schwerfällt. Ich bin nicht sicher warum, aber wir Männer haben damit mehr Probleme als die Frauen. Die haben sich da besser im Griff. Ist es unserer Geschichte als Jäger und Sammler geschuldet? Kämpfen oder davonlaufen, während die Frauen zurückhaltend in der Höhle auf die Heimkehr des wilden Jägers warten. Selbst nach Jahrtausenden Entwicklungszeit können wir gewisse Muster einfach nicht ablegen.

Es bleibt noch die Frage, warum ich mich für den Start um 15.30 Uhr und nicht für den weniger unter Zeitdruck stehenden früheren um 9.30 Uhr entschieden habe. Ganz einfach: ich mag es, normal zu schlafen, normal den Tag zu beginnen, normal zu essen vor einem Wettkampf. Je früher der Start am Morgen, umso gestörter ist der Tagesrhythmus. Beide Kategorien werden mindestens eine komplette Nacht unterwegs sein. Die frühen Starter werden aber auch zwei volle Tage unter der Sonne Menorcas verbringen. Dem wollte ich ebenfalls mit einem Start am Nachmittag entgehen.

Mit Verlassen des Strassenbelages kommt meine Zeit. Hier an der Nordküste ist der Weg von erodiertem Gestein übersäht. Unwegsam aufragende Gesteinsplatten oder einzelnes, von Wind und Salzwasser abgeschliffenes Sedimentgestein bilden den Weg. Ein falscher Tritt und das Abenteuer Cami de Cavalls kann bereits zu Ende sein. Ich liebe diese technischen Passagen. Zumindest jetzt noch, mit wachem Sinn und starken Beinen. Leicht und locker tänzelnd geht es über diese zerklüftete Küstenlandschaft aus gebrochenen, aufgefalteten Felsen, sehr uneben und schroff, mit zahlreichen Landzungen und Buchten voll rötlichem oder dunklem Sand, durch raue Schluchten, entlang der wilden Nordküste mit ihren spektakulären Felsformationen. Entspannt und auf mich fokussiert kann ich hier einige der vor mir Liegenden überholen. Es geht mir dabei weniger um die Platzierung. Nein, ich geniesse einfach diese Freiheit des Schwebens, diese Leichtigkeit des Seins. Eins mit der Natur und mit dir selbst.

Es ist nicht heiss. Unter starker Bewölkung lässt es sich gut aushalten. Ich trinke und verpflege mich regelmässig. Auch isotonische Getränke und Salztabletten gehören zu meinem Ernährungskonzept hier. An den Verpflegungsposten, alle zehn bis fünfzehn Kilometer, nehme ich einzig Wasser und mal ein Stück Orange oder ein paar Salzbrezeln. So früh im Rennen bin ich immer noch gefüllt von meinen zwei Hauptgängen beim Mittagessen.

Der Untergrund wechselt nun ständig: felsig, sandig, matschig oder staubtrocken – je nach Umgebung und Abschnitt. Es hat nicht viel geregnet in den vergangenen Tagen. Das kommt uns auf den zeitweise steilen, steinigen Passagen zugute. Mit dem festen Grip der Trailrunning-Schuhe bin ich bestens gewappnet. Man könnte den Lauf aber auch in Strassenschuhen absolvieren, sofern die Sohle guten Halt bietet. Diese Mischung aus Stränden, Waldwegen, Klippen, Anstiegen und Abwärtspassagen stellt eine ständige Herausforderung für die Beine und den Kopf dar. Und man muss dranbleiben. An einzelnen Checkposten werden Cut-Off-Zwischenzeiten (das Zeitlimit) von den Helfern kontrolliert. Wer zu langsam unterwegs ist, wird aus dem Wettkampf genommen. Nein, nicht erschossen, wie bei Steven King’s Todesmarsch; auch wenn es der Enttäuschung der betreffenden Teilnehmer sehr nahekommt.

Mehr als nur Laufen – eine mentale Reise

Der Trail Menorca Cami de Cavalls ist kein Rennen für Bestzeiten, sondern eher was für Durchhaltewillige. Wer hier startet, stellt sich und seine Psyche selbst in den Mittelpunkt. Die Einsamkeit auf einigen Streckenabschnitten fordert ihren Tribut. Temperaturen können alles hergeben – von drückend heiss tagsüber bis Kühle nachts. Die Austragung in diesem Jahr hielt da ein paar besondere Wetterkapriolen bereit. Aber wer durchhält, erlebt einen Lauf, der Körper und Geist neu verbindet.

Bei Kilometer fünfzig laufe ich die erste grosse Verpflegungsstelle an. Es ist bereits 22.00 Uhr und stockdunkel. Das Eintauchen in die Nacht war von einem orangefarbenen, den Horizont überspannenden Sonnenuntergang geprägt. Der erste Dropbag wartet mit neuer Verpflegung. Ein Power Carb Pulver zum Mischen mit Wasser, ein paar Trockenfrüchte, zwei Riegel, Isotabletten und zwei Notfall-Gel wechseln aus dem Beutel in meinen Laufrucksack. Von der offiziellen Verpflegung genehmige ich mir eine Bouillon. Mal kurz absitzen auf einem Stuhl – eine Wohltat. Die vergangenen Stunden hatten es bereits in sich. Und dabei sind wir doch erst am Anfang! Solch eine Verpflegungsstelle ist eine Oase der Erholung. Und ein Theater mit grosser Bühne zum Beobachten der anderen Läufer. Einige schon mächtig gekennzeichnet. Hier und da wird ein zustimmendes Kopfnicken mit den Mitstreitern ausgetauscht. Mit einigen habe ich unterwegs immer wieder mal ein Wort gewechselt. Die Verpflegungsposten sind aber auch ein Ort der Begegnung mit den Angehörigen und unterstützenden Helfern. Und manchmal ist es auch ein Ort der Entscheidung: Weiterlaufen oder aufgeben?

Das Zweite steht ausser Frage. Stattdessen bin ich bereits wieder im Laufschritt. Wieder mal zwei, drei Kilometer auf asphaltierter Strasse. Gute Gelegenheit, Kilometer abzuspulen. Bis Kilometer 100 bin ich alles gerannt, was irgendwie rennbar war. In unwegsamen Gelände habe ich ein vorsichtiges Gehen bevorzugt, will mir keine Verletzung einhandeln. Der Lauf hier ist ja nur ein Test und Vorbereitung für kommende Aufgaben.

Sind wir nicht überhaupt immer irgendwas am Vorbereiten? Gibt es den Moment, indem wir wirklich im Hier und Jetzt sind? Das liegt natürlich an jedem selbst. Und an der Intention, warum man gerade da ist, wo man ist. Ich geniesse jeden Augenblick in der Dunkelheit hier draussen. Verschwende keine Gedanken an Orte, in denen ich jetzt sein könnte. Mein Fokus liegt auf… nichts! Ich setze einfach und spielerisch ein Bein vor das andere, habe kein Auge für die Laufuhr oder abgespulte Kilometer. Ich bin bei einer meiner Lieblingsbeschäftigungen. Warum sollte ich irgendwo anders sein wollen. Jeder Schritt im Leben ist einer in die richtige Richtung.

Finishen bedeutet mehr als Ankommen

Dass ich die ersten einhundert Kilometer im vergangenen Jahr bereits gelaufen bin, war nicht hilfreich. Ich warte immer wieder auf diesen einen besonderen Punkt der Aussicht auf einen Strand, auf den nächsten Leuchtturm an der Steilküste, auf die nahende Wegbiegung. Ich habe hier also nichts erkundet, sondern WAR einfach. Und doch ist jedes Mal anders. In diesem Jahr bin ich später gestartet und komme zu unterschiedlicher Tageszeit an diesen markanten Punkten an. Das macht den Lauf zu einem ganz anderen, als er mir in Erinnerung ist.

Um die Insel herum zogen Gewitter auf. Es blitzte und donnerte bald im Sekundentakt. Ein fantastisches Spektakel. Ich hatte noch nie horizontale Blitze ohne Anfang und Ende gesehen! Als wäre Menorca eine Vulkaninsel und die Berge speien um uns herum Feuer.

Die meiste Zeit laufe ich nun allein. Und warte dabei auf einen Abschnitt, der mir vom letzten Jahr noch gut in Erinnerung blieb. Ein Naturschutzgebiet, oder besser ausgedrückt ein Moor, indem das Benutzen der Stirnlampe aus Gründen des Schutzes betroffener Arten verboten war. Der Veranstalter hat auf Bodenhöhe kleine LED-Lampen aufgestellt. Unterschwellige Beleuchtung, halbdunkel. Man konnte gerade so den Fuss erkennen, wie er auf dem feuchten Wiesenboden aufsetzt. Der Single-Pfad schlängelt sich dabei durch hohen Gras. Oder war es Schilf? Im diffusen Licht nicht erkennbar. Begleitet wurde jeder Läufer mit einem beeindruckenden Froschkonzert. Eine Unterhaltung wäre hier unmöglich gewesen. Die Passage erstreckt sich über nur etwas mehr als einen Kilometer und hat doch bleibenden Eindruck hinterlassen. Irgendwo in der Natur, stockdunkel, nur die Füsse beleuchtet. Angst? Nein, wovor? Es ist auf Menorca noch kein Ungeheuer gesichtet worden. Das überlassen wir besser den Schotten.

Die Lichtkegel einer näherkommenden Stadt ist lange vor Erreichen entfernt sichtbar. Mahon, die Hauptstadt Menorcas bildet die einhundert Kilometer Marke. Um Mitternacht starten von hier die Läufer der einhundert Kilometer Distanz. Irgendwann kreuzen sich unsere Wege. Anfangs die schnellen, vereinzelt, dann ein grosser Pulk der Durchschnittsläufer und ein paar Nachzügler entlocken immer wieder ein «hola» oder «animo», dem typischen Anfeuerungsruf der Spanier. Auf solchen Distanzen gibt es kein Gegeneinander. Das Miteinander prägt die Gemeinschaft. Jeder läuft für sich dem Ziel entgegen. Und kommt dabei mehr oder weniger erfolgreich an: in erster Linie bei sich selbst.

Am Scheidepunkt des Rennens

Am Stadtrand von Mahon hörte der Spass dann auf. Mir wurde bewusst, dass wir gerade mitten in eines dieser atemberaubenden Gewitter hineinlaufen. Bis zum nächsten, grösseren Verpflegungsposten bei Kilometer hundert sind es noch etwa sieben bis acht Kilometer. Ich muss das Durchziehen! Der Posten ist in einer Sportanlage untergebracht. Es gibt sogar Matratzen zum Schlafen dort. Und warme Verpflegung. Und Kaffee. Und eine Toilette. Und wer möchte, kann sogar duschen! Die Turnhalle erscheint mir aktuell fast wie eine Luxusherberge.

Doch bevor ich mir diese Annehmlichkeiten zu eigen machen kann, öffnet sich der Himmel und es giesst in Strömen. Wolkenbruchartig geht es schnell und die Strassen überfluten. Eine starker Wind hat sich aufgemacht. Der Regen peitscht mir ins Gesicht und die damit einhergehende Nässe erzeugt Kälte auf der Haut. Egal, nur noch fünf Kilometer bis zum Shangri La. Ich muss das Durchziehen!

Zwei Läufer stellen sich in einem Hauseingang unter. Aus einer Bar am Strassenrand klingt laute Musik und Gegröle. Es ist kurz vor sechs Uhr am Samstagmorgen und die letzten Nachteulen haben sich noch nicht auf den Heimweg gemacht. Das Gewitter scheint immer näher zu kommen. Der Abstand zwischen Blitz und Donner beträgt nur noch wenige Sekunden. Und dann, auf Höhe Hafenbecken ist die Spitze erreicht: ein Blitz haut nur ein paar Kilometer neben mir draussen ins Meer. Und im selben Moment ein Mark durchdringender Donner. Instinktiv habe ich einen Satz zur Seite gemacht. Der ohrenbetäubende Knall zerreisst die Luft. Es ist nicht wie ein ferner Donner, sondern eine Explosion direkt neben mir. Der Schreck trifft meinen Körper wie eine unsichtbare Wand – ich spüre ihn in der Brust, in den Knochen, in jeder Faser. Mein Herz hat in diesem Moment vermutlich den Höhepunkt an Frequenz während des gesamten Rennens erreicht. Ein Anhalten gibt es nicht. Ich muss das Durchziehen!

Nach unendlich langen, verbliebenen Kilometern erreiche ich im Morgengrauen den Verpflegungsposten. Durchnässt und frierend. Die Regenjacke hatte ich, auf Empfehlung des Veranstalters am Vortag, zu Hause gelassen. War das ein Fehler? Ja, jetzt weiss ich es. Lernen passiert immer im realen Leben.

Im Wechselbeutel sind ein frisches T-Shirt und trockene Socken. Und ein paar Schuhe mit etwas mehr Sohle, also Unterstützung für die verbleibenden fünfundachtzig Kilometer. Problem dabei: der Schuh ist ein Strassenschuh mit einfacher Sohle, also ohne spezielles Trail-Profil. Jetzt, nach dem heftigen Regen habe ich Respekt vor den rutschigen Steinen und entscheide mich, den Trail Schuh anzubehalten. Die Sohle dünn wie eine Scheibe Mailänder Salami, aber wenigstens mit dem notwendigen Grip. Wie meine Fusssohle auf den letzten fünfzig Kilometern brennen würde, wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

Das T-Shirt und die Socken spenden nur für einen kurzen Moment Wärme. Gehwol Fusskrem habe ich unter diesen Bedingungen nochmal nachgeschmiert. Und die Socken darübergestülpt. Sobald die Füsse dann wieder in die nassen Schuhe schlüpfen und über das T-Shirt die nasse Windjacke montiert wird, bin ich bekleidungstechnisch wieder beim Zustand vor dem Verpflegungsposten angelangt. Nass, durch und durch. Egal, die Temperaturen sind mit 18 Grad Celsius ja nicht unangenehm. Eine leichte Brise lässt die Wäsche auf der Haut schnell trocknen. Der Regen und das Gewitter haben sich mittlerweile verzogen. Nach einer Suppe, einem Kaffee, einer kleinen Portion kalter Pasta mit Tomatensauce bin ich zurück auf der Strecke. Etwa dreissig Minuten Auszeit habe ich mir hier gegönnt. Die Südküste wartet.

Neuer Tag, neues Glück

Wer das Buch «Ein Marathon geht immer» gelesen hat, kennt meinen Ansatz an Glück. Ich glaube nicht an Glück bei einem gewinnbringenden Ereignis. Es ist eher ein Zufall, der im entscheidenden Moment die richtigen Zahlen aus der Lostrommel befördert. Glück definiert sich vielmehr über dieses Empfinden, die innere Zufriedenheit, die mit jedem Sonnenaufgang zurückkehrt. Als will der neue Tag sagen: hier bin ich, mach das Beste aus mir!

Laufen wird zur Routine. Irgendwie. Und dann doch nicht. Es stellen sich hier und da kleine Problemchen ein. Eines, dass sich später als immer grösseres herauskristallisierte, war eine wundgescheuerte Stelle an den inneren Oberschenkeln. Es ist eine heikle Geschichte, die ich nun erzähle. Also, wer empfindlich ist, bitte weghören (oder heisst das hier weg lesen?). Ich habe einen Fehler gemacht. Ja, das passiert selbst erfahrenen, alten Hasen. Erst zwei Tage vor Start habe ich mir die Beine rasiert. Warum? Man muss sich nicht die Beine rasieren, um ein guter Läufer zu sein – aber viele tun es aus einer Mischung aus Pragmatismus, Ritual, Hygiene und Ästhetik. Bei diesen Läufen im Gelände kommt es immer wieder zu Stürzen. Ich kann aus Erfahrung reden. Rasierte Beine erleichtern die Wundversorgung, weil Pflaster oder Verbände besser haften und sich keine Haare in die Wunde „kleben“. Das Risiko von Infektionen ist dadurch etwas geringer.

Aus hygienischer Sicht bringt das Rasieren der Beine für Läufer eine leichtere Reinigung, bessere Pflege und geringeres Infektionsrisiko – besonders bei regelmässigem, intensivem Training oder Outdoor-Einsätzen. Ich möchte hier auch kein Plädoyer für rasierte Beine halten. Das entscheidet jeder für sich. Mein Problem aber gerade jetzt bei Beginn des neuen Tages gestaltet sich so schmerzhaft, dass ich besser darauf verzichtet hätte. Also, so kurz vor dem Wettkampf.

Die Sportunterwäsche, die ich unter der Laufhose trug, reibt bei jedem Schritt. Die Scheuerstelle muss bereits entzündet sein. Ich kann es nicht sehen, nur spüren. Es ist ein Versuch ohne Versprechen auf Linderung: das Höschen muss aus! Und so stehe ich im Walde ganz still und stumm und hab vor lauter Purpur kein Höslein um… Gut, dass mich jetzt gerade niemand sieht, wie ich mit Laufrucksack und Schuhen, aber ohne Shorts hier im Walde stehe.

Die kommenden Schritte verlaufen etwas schmerzarmer. Nicht komplett befreit, aber ein reduziertes Stechen ist zu spüren. Das wird schon. Sind ja nur noch zirka fünfzig Kilometer. Die Laufhose habe ich, ohne Unterhose, natürlich wieder an. Bis drei Tage nach dem Wettkampf war der Gang zum Brötchenholen nur mit weit nach aussen gespreizten Beinen möglich. Dank einer lindernden Zinksalbe bekam ich das Problem dann aber in den Griff. Und habe nun wieder eine neue Geschichte im Repertoire.

Der Morgen begann, wie der alte Tag endete: bewölkt mit angenehmen Temperaturen. Das änderte sich, als kurz vor Mittag die Sonne durchdrückte. Der glühende Ball sendet heisse Strahlen. Ab und zu gemildert durch eine leichte erfrischende Brise.

Entdecke das Thema Achtsamkeit beim Laufen (erschienen 2025 im Meyer & Meyer Verlag)

Die Hitze verlangsamt meinen Körper. Es sieht so aus, als würde sich das System auf andere Dinge konzentrieren als auf das Laufen. Ich kann immer noch gut essen und trinken. Aber die Bewegung ist nicht mehr so flüssig wie auch schon. Unterstützt von den Trailrunning-Stöcken schiebe ich mich in bestmöglichem Tempo die Anstiege empor. Bergab dagegen bin ich heute richtig schlecht drauf. Liegt es immer noch an dieser Sicherheit, die im Unterbewusstsein an mir rüttelt: nur nicht den Fuss verknacksen. Ich kann nicht dagegen angehen, es rollt einfach nicht. Was soll’s? Jeder Tag ist anders. Zu viel darüber nachzudenken hilft nicht. Einfach weiter, immer weiter.

Wenn das Bewusstsein schwindet

Mit zunehmender Hitze beginnen die Halluzinationen. Bei Läufen jenseits der einhundert Kilometer habe ich da bereits ausreichend Erfahrungen gesammelt. Und ich warte auch jeweils darauf. Ich suche sie nicht, sie kommen einfach. Manche fürchten sich vor Ihnen, ich mag diese bewusstseinserweiterten Erscheinungen. Wer braucht denn schon Drogen, wenn sich mit Laufen ähnliche Effekte erzielen lassen.

Um euch einen kleinen Einblick zu geben: ich sah überall Menschen. Eine mongolische Familie sass dicht zusammengedrängt im einsamen Wald auf dem Boden und beobachtete mich mit furchterregenden Lächeln, das ihr Gesicht durchzog. Vater, Mutter und zwei Kinder hielten sich fest im Arm. Oder: Steine jeglicher Grösse schwebten und jeder einzelne hatte eine Nummer. Ich lief wie durch ein Mario Game. Ausserdem: ein Strand war übersäht mit toten Hunden. Und nachts fletschten die Leute aus den parkenden Autos ihre Zähne, wenn sie mich anlächeln. Diese Autos bewegen sich langsam in meine Richtung auf mich zu. Ich muss rennen, um ihnen zu entkommen.

Das ist noch nicht alles, nur ein kleiner Auszug aus dem Repertoire. Ob mir das Angst bereitet hat? Nein, ich bin Teil dieser Fabelwelt und gehe darin auf. Ich kann mich dabei gut von aussen beobachten, wie ich erstaunt diese Sinnestäuschungen mit offenem Mund wahrnehme.

Was für Gedanken kommen während solch endloser Stunden noch in den Sinn? Auch hier nur eine kleine Kostprobe: meine Partnerin hat mich gebeten, die Wände mal wieder neu zu streichen. Wir sind jetzt doch auch schon siebzehn Jahre in der Wohnung. Leider musste ich ihr eine Abfuhr erteilen. Ein Test beim Arzt hat ergeben: ich bin Lackdose intolerant 😉 (vielleicht sollte ich während solch einem Event mal ein Buch schreiben…).

Was sind die Tests, denen ich mich heute beim TMCDC stelle? Zum einen möchte ich eine Ernährungsstrategie probieren. Das verläuft ganz zufriedenstellend. Des Weiteren möchte ich wissen, wie viele Kilometer ich unter diesen Bedingungen hier während vierundzwanzig Stunden zu Laufen in der Lage bin. Die Antwort habe ich erhalten. 145 Kilometer sind nach einem vollen Tag absolviert. Damit bin ich ganz zufrieden. Beides sind wichtige Puzzleteile für mein Jahreshighlight im Juni in Indien. Was das sein wird? Moment mal, wir sind jetzt erstmal auf Menorca. Weiter geht’s.

Zwanzig Kilometer vor dem Ziel, bei Son Saura, dem vorletzten Checkposten, bleibe ich bei einem spanischen Läufer und seinen beiden Begleitern. Wir reden nicht, sind im Überlebensmodus. Bei den Anstiegen bin ich schneller, bergab er. Eine Zweckgemeinschaft. Nicht allein sein hier draussen. Gegenseitig antreiben, nicht stehenzubleiben. Wenn der andere sich noch bewegen kann, warum soll ich es dann nicht?

Im Kopf ist jetzt permanent die Cut-Off Zeit. Es kann knapp werden. Ich rechne und rechne. Es wird bald dunkel. Wo sind wir genau? Wann werden wir am nächsten und dann am letzten Checkposten eintreffen? In meinem Kopf habe ich Zahlen und Fakten dem Erschöpfungsstatus entsprechend bestmöglich sortiert. Spätestens hier hätte mir bewusst werden müssen, dass ich bei meinen Denkprozessen am Limit bin. Ich sage meinem Mitstreiter, dass wir es nicht mehr schaffen werden bis zum nächsten Verpflegungspunkt innerhalb des verfügbaren Zeitfensters.

Gefangen im Kreise der eigenen Gedanken

Ungläubig schauen mich die Drei an. Und beginnen zu sprinten! Ich bin immer noch am Rechnen und in einem hellen Moment im Oberstübchen bemerke ich: ich habe einen Fehler gemacht und ihnen eine falsche Information gegeben, habe mich verrechnet. Zur Sicherheit habe ich das Reglement auf dem Handy nochmal angeschaut. Und siehe da: es ist noch eine Stunde mehr zur Verfügung. Sie sind bereits einige hundert Meter entfernt, als ich ihnen hinterherschreie. Sie hören mich, antworten etwas und sprinten weiter.

Diese Cut-Off Berechnungen kosten mich viel Kraft. Das muss ich in Zukunft unterlassen. Normalerweise interessieren mich diese Zeitfenster nicht so genau. Auch hier nicht. Allerdings ist die Situation heute eine andere: es kann knapp werden, das Ziel innerhalb der Frist zu erreichen.

Langsam fange ich an, mir Sorgen zu machen, ob ich es rechtzeitig schaffe und werde langsamer. Ich habe mir gesagt: Ich geniesse das alles hier. Und ich bin nicht wegen einer Medaille hier. Also werde ich weitermachen und auf eigene Faust, selbst nach Ablauf irgendwelcher Zeitbeschränkungen, nach Ciutadella zu Fuss zurückkehren.

Gefangen in meinen Gedanken, vergeude ich Zeit und Raum. Besser nutze ich diese Energie, um mich zu konzentrieren. Es geht in die zweite Nacht und etwas mehr Achtsamkeit wäre angebracht. Die kommenden Stunden werden herausfordernd, jetzt beginnt für mich erst der Wettkampf. Gegen die Uhr, gegen meine Fantasie, gegen Zweifel, aufkommende Schmerzen. Der innere Kampf ist intensiv, vielschichtig und oft brutaler als jeder Anstieg oder Kilometer.

Mit Eintreten der Dunkelheit bin ich dann sofort verloren. Ich habe mir wieder Sorgen gemacht. Ich drehe mich im Kreis. Das Zeitgefühl ist weg. Allein in der Dunkelheit kann ich keine klaren Gedanken mehr fassen. Links rauscht das Meer, rechts erstreckt sich unendlich eine dieser Trockensteinmauern, die die gesamte Insel beherrschen. Vor mir ein Strand. Moment mal, hier war ich bereits! Das ist der Strand des letzten Checkpostens. Keine Licht, kein Ort in Sichtweite. Ausserhalb des Kegels meiner Stirnlampe ist es stockduster. Ich irre auf diesen erodierten Gesteinsplatten umher. Im Wahn, etwa zehn Kilometer wieder zurückgelaufen zu sein. Wie konnte das passieren. Habe ich in einem dieser dürren Waldstücke statt nach links den Abzweig nach rechts genommen? Ich konnte es mir nicht erklären und bin doch sicher: hier war ich schon und muss diesen Streckenteil nochmals absolvieren.

Gedanken kreisen: das Rennen ist bereits vorbei. Sie werden mich suchen. Es wird auffallen, wenn ein Läufer fehlt. Wann kommt der rettende Helikopter. Ich versuche, die Telefonnummer des Veranstalters zu finden. Kein Handyempfang. Demzufolge lässt sich auch auf Google Maps der Standort nicht bestimmen. Ich war völlig verloren. Ausserhalb des Verstandes. Ausser Kontrolle. Hilflos.

Rettung naht

Nach einer gefühlten Unendlichkeit tauchte eine Stirnlampe aus der Dunkelheit auf. Ist das der rettende Trupp? Ich schreie ihn an, ob er ein Läufer sei. Mit ruhiger Stimme bestätigte er es mir. In einem Durcheinander von Worten und Gedanken versuche ich ihm zu erklären, was geschehen ist und stelle ihm wilde Fragen. Anstatt zu antworten, packt er mich an der Schulter und sagt: du bist müde und erschöpft, komm mit, wir gehen zusammen zum nächsten Ort. Mir blieb keine Wahl. Ich musste ihm vertrauen. Selbst wenn er mich hinter dem nächsten Busch in Stücke zerreisst und sich mit kannibalischen Zügen über mich hermacht, war mir das gerade vollkommen egal.

Als ich später, nach Zielankunft meine Route auf dem Mobiltelefon überprüfe, wird mir bewusst, ich habe mich nicht verlaufen. Ich hatte nur Halluzinationen.  Ich bin nie zu dem Ort zurückgekehrt, an dem ich zu sein glaubte. Ich war immer auf dem richtigen Kurs, habe mich einfach in einem kleinen Kreis bewegt. Mein Kopf fand in diesem Augenblick keine Lösung. Es lag nicht in meiner Hand, zu entscheiden.

Was denke ich, wenn es mal schwer geht bei solch einer Monsterbelastung, wurde ich kürzlich gefragt. Ob ich in einem Satz sagen kann, wie ich es immer wieder schaffe, Grenzen zu überwinden? Zuerst einmal können wir Grenzen nicht überwinden. Eine Grenze ist meist nur eine rote Linie im Kopf. Als Mensch sind wir zu viel mehr in der Lage, als sich unser Gehirn vorstellen kann. Mit zunehmender Erfahrung ist mir bewusst, dass bis zum Limit meiner selbst noch viel Raum ist. Und wenn ich dann gefühlt doch mal an einem herausfordernden Punkt ankomme, würde ich es so umschreiben: Ich mache mir die Leichtigkeit des Lebens, dieses Augenblickes bewusst, während ich an meinem persönlichen Grenzzaun stehe und neugierig ins Ungewisse schaue.

Und irgendwie erreiche ich dann die Stadtgrenze von Ciutadella. Auf den letzten Kilometern war ich allein. Einfache Wegführung, die Lichter der Stadt immer vor mir. Es bleiben noch ca. fünf Kilometer durch urbane Gefilde. Nach dem stundenlangen Cruisen auf dunklen Naturpfaden sind die asphaltierten, hell beleuchteten Strassen ungewohntes Terrain. Potential zu Verlaufen gibt es hier definitiv. Es dauerte auch gar nicht lange bis ich, nur mit Hilfe eines anderen, ortskundigen Läufers an entscheidenden Weggabelungen den richtigen Abzweig genommen habe. Während der vergangenen Stunden hatte ich mich damit abgefunden, das Ziel nicht mehr innerhalb meines Zeitlimits zu erreichen. Jetzt, nur noch wenige Kilometer verbleibend, wies mich der Mitstreiter darauf hin, dass ich es noch schaffen kann, wenn ich straff renne.

Grande Finale

Und dann, nur einen Kilometer vor dem Ziel treffe ich auf die Helfer, die die Streckenmarkierung entfernen. Bei uns würden wir sie den «Besenwagen» nennen. Einer schreit mir zu: «Sprint!!! Wenn du nicht sprintest, wirst du es nicht schaffen! Das Ziel wird Punkt 1.01 Uhr geschlossen!» Ich renne wie der Teufel. Nach 184 Kilometern liessen sich Reserven entlocken, die mir einmal mehr gezeigt haben, dass unsere Grenzen ganz wo anders sind, als wir sie vermuten.

Zweihundert Meter vor dem Ziel wartet dann Dino, der Speaker auf den letzten Finisher des 2025 Trail Menorca Cami de Cavalls.  Wer das sein wird? Na, dreimal darfst du raten: um 1.00.38 Uhr am sehr frühen Sonntag überquere ich die Ziellinie und öffne das letzte verbleibende Gate. Und hinter mir wurde es für diese Austragung geschlossen. Auf den Punkt.

Die Feier im Ziel war grossartig. Es gab es eine Gruppe spanischer Läufern mit ihren Angehörigen, die mir in diesen schwierigen Situationen geholfen haben. Sie haben vor mir das Ziel erreicht und applaudieren und feiern. Und Lluis, der Organisator, hat mir persönlich die Medaille umgehängt. Es ist schon etwas Wahres daran, wenn man sagt: der Sieger und der Letzte erfahren besondere Aufmerksamkeit.

Welche Gefühle mich auf der Ziellinie durchströmten? Hmmm, gute Frage. Im Augenwinkel sah ich die beiden Jungs, die mich einen Kilometer vor dem Ziel zum Sprint gedrängt haben. Und Dino, der Sprecher. Und viele fröhliche Gesichter. Ich war einfach nur glücklich, hier zu sein. In diesem Moment. Keine grossen Gedanken. Kein Bedauern. Nur Emotionen.

Randbemerkung: aufgrund der unterschiedlichen Zeitlimits hatten einige der 40 Stunden Läufer das Ziel natürlich auch bereits erreicht. In der Endabrechnung bin ich also nicht Letzter, sondern auf einem Mittelplatz als 93. Verständlich? Oder zu verwirrend? Dann einfach mal selbst teilnehmen und dir bleibt genügend Zeit, dich mit dem Thema auseinanderzusetzen.

Für wen ist der TMCDC geeignet?

Wer nach 185 Kilometern wieder in Ciutadella einläuft, hat mehr als nur ein Rennen beendet. Er hat die ganze Insel erlaufen, die Elemente gespürt und eine immense Reise mit sich selbst und in sich selbst unternommen. 169 der 322 Starter werden in diesem Jahr dieses Ziel sehen und erleben. Der Empfang am finalen hölzernen Tor ist herzlich, fast familiär. Der Speaker feiert jeden Einzelnen als Sieger. Umarmungen werden nicht nur zwischen Läufern ausgetauscht. Die Freundlichkeit und Aufmerksamkeit der Helfer an diesem Event sind hervorzuheben. Die Medaille wird dabei fast nebensächlich – das Erlebnis bleibt für immer.

Der lange Bakken hier beim Trail Menorca Cami de Cavalls ist nichts für Laufanfänger. Wer sich auf die 185 Kilometer wagt, sollte Erfahrung mit überlangen Distanzen, schwierigem Untergrund, eine gute Vorbereitung und vor allem mentale Stärke mitbringen. Es ist kein gewöhnlicher Ultratrail. Er ist eine Ode an die Natur, an das Laufen und an die eigene Willenskraft. Wer Menorca einmal auf diese Weise umrundet hat, sieht die Insel – und sich selbst – mit anderen Augen.

Nächste Austragung
01. – 03. Mai 2026

Webseite
https://trailmenorca.es/en/

Distanzen
185km – TMCDC
100 km – TMCN
85 km – TMCS
58 km – PTCN
44 km – PTCS
27 km – STCN
11 km – Starter

Photo Credits Trail Menorca Cami de Cavalls und ACTREME

 

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