Dig deep – Einhundert Meilen für die Ewigkeit
Leadville, Colorado. Seit 1983 ein Begriff in der Trail Lauf Szene. Als in den 2000er Jahren Trail Lauf Veranstaltungen rund um den Globus aus dem Boden schossen, hatte sich die frühere Goldgräberstadt am Quellgebiet des Arkansas River unter Laufverrückten bereits etabliert. Seither versammelt sich jedes Jahr im August eine bunte Schar Läufer, um den legendären Leadville 100 in Angriff zu nehmen. 100 Meilen in der Höhenluft der Rocky Mountains. Bei der Austragung 2022 stehen 750 Läufer an der Startlinie. Erfahrungswerte der vergangenen 39 Jahre lassen bereits im Vorfeld erahnen, dass um die 50 Prozent die Ziellinie an 6th Street, Ecke Harrison Ave sehen werden.
Um den Spirit dieses Laufes, bzw. dessen Wurzel zu verstehen, gehen wir in der Geschichte etwas zurück. Während des Goldrausches am nahegelegenen Pikes Peak 1860 wurde auf dem Gebiet der heutigen Stadt Leadville Goldseife entdeckt. Die Goldwäscher taten sich allerdings schwer mit dem Herauswaschen aus dem dichten, braunen Sand. 1876 entdeckten die frühen Besiedler Silberadern, in deren Nähe 1877 die Minenbesitzer Horace Austin Warner Tabor und August Meyer die Stadt Leadville gründeten. Damit setzte ein Silberboom ein. 1880 war Leadville eine der grössten Silberbergbausiedlungen der Welt und hatte über 40.000 Einwohner. Nach dem Silber kam die Zeit des Blei, Zink, Kupfer und Molybdän.
Leadville verschwand von der Bergbaukarte, als in den 1980er Jahren das Bergwerk in Climax endgültig geschlossen wurde. Für die Bewohner eine harte Zeit. Damals stand es um die Rocky Mountains Region, etwa zwei Stunden von Denver entfernt, nicht zum Besten. Die Rohstoffgewinnung hatte längst den wirtschaftlichen Aspekt überschritten. In dem, wie eine Filmkulisse aus einem angestaubten Westernstreifen wirkenden Städtchen ging die Einwohnerzahl rapide zurück. Eine Neuausrichtung musste her.
Auf der Suche nach einem Austragungsort für einen aussergewöhnlichen Laufevent nahm Colorados Präsident der Ultra Vereinigung Jim Butera Kontakt zum damaligen Lake County Kommisionär Ken Chlouber auf. Und dieser sprang auf die im wahrsten Sinne atemberaubende Idee an. Butera entwarf eine Strecke. Bis heute wurde kaum etwas an deren Verlauf verändert. So war und ist Leadville auf 3’000 Metern Start- und Zielort. Auf einer Wendepunktstrecke geht es über den 3’840 Meter hohen Hope Pass.
Leadville 100, The Race Across The Sky war geboren. Die erste Austragung fand am 27./28. August 1983 mit Jim Butera als Racedirektor unter Assistenz von Ken Chlouber und Merilee Maupin statt. 45 Starter und zehn Finisher wurden damals gezählt. Die Community der alten Minenstadt hat aber von Beginn an die Chance genutzt und den Leadville 100 zu einem der renommiertesten Ultra Trail Läufe wachsen lassen. Der Ort trägt den Geist der Veranstaltung mit. Von Anfang an gaben die Organisatoren über eine Stiftung der Gemeinde viel zurück. Das Rennen und somit Leadville ist zur Touristenattraktion geworden. Der Switch der Stadt zum Outdoorparadies ist gelungen.
Warum sind Namen in Verbindung mit dem Event so wichtig? Chlouber und Maupin haben der Veranstaltung ihren Stempel aufgedrückt. Sie sind bis heute Aushängeschilder des Leadville 100. Mit ihren Motivationssprüchen „Dig Deep!“ stellen sie eine Verbindung zwischen der Herausforderung an jeden Einzelnen und die Bergbaugeschichte des Ortes her. Und im Ziel empfangen sie jeden Finisher persönlich.
So weit bin ich aber noch lange nicht. An einem warmen Sommertag im August 2022 stehe ich am Flughafen Zürich. Ein Direktflug bringt mich nach Denver, in die nächstgelegene Stadt. Gedanken kreisen mir durch den Kopf. Den Startplatz konnte ich aus dem Jahr 2020 vortragen. Pandemiebedingt fiel der Wettkampf damals aus. Meine ernstzunehmende richtig lange Laufdistanz liegt ebenso lange zurück. Bin ich bereit für anspruchsvolle 161 Kilometer? Es wird mein erster Ausflug in die USA. Gehört hatte ich bereits über diese Traditions 100 Meiler. Western States, Hardrock und eben Leadville üben eine magische Anziehungskraft auf mich aus. So ein Klassiker fehlt mir noch im Palmares. Auf geht’s. Ich liebe das Neue, Unbekannte. Und kann es kaum erwarten, die Startnummer jenseits des grossen Teiches anzulegen.
Akklimatisieren im Schnelldurchgang
Die Einreisemodalitäten liessen sich relativ einfach abarbeiten. Reisen wird wieder zur Normalität. Einzig lange Schlangen nach der Ankunft in Denver trüben die Stimmung etwas. Es gibt keine Einreisebeschränkungen mehr. Eher die genaue Passkontrolle wird zum Nadelöhr. Der streng dreinblickende Beamte gibt mir dann auch gleich zu denken. Auf seine Frage, was ich hier mache, antworte ich prompt, ich laufe in Leadville. Schlagfertig kontert er, warum da, ich könne ja überall auf der Welt laufen. Gedankenversunken sinniere ich. Ich will ihm nicht erklären, dass ich das auch mache! Rums, mit Schmackes landet der Visa Stempel auf einer beliebigen freien Seite meines Reisepasses. Er wartet meine Antwort nicht ab.
Nach Ankunft im beschaulichen, etwas schräg wirkenden Städtchen Leadville versinke ich in die Blütezeit der Gold- und Silbergräber. Von den einst 40‘000 Einwohnern blieben gerade einmal 2‘500 in der Stadt. Die Harrison Ave als zentrale Strasse spiegelt mit den denkmalgeschützten Gebäuden aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts das Abbild dieser Zeit wider. Ich lasse mich durch den Ort treiben und begegne ehemaligen Helden der Stadt, wie Oscar Wilde, Texas Jack, Horace Austin Warner Tabor oder Doc Holliday. Gute wie Böse zog der zu erwartende Reichtum an. Mit ihren Westernhüten und aus alten Trachten schauen sie mich ungläubig an. Was suche ich hier? Bevor ich in eine Schiesserei verwickelt werden, erwache ich aus dem Tagtraum. Erste Anzeichen für Halluzinationen? Nein, eher Sauerstoffmagel. Bereits leichte Anstiege lassen den Puls nach oben schnellen.
Auf 3000 Metern Höhe stellt sportliche Bewegung eine Herausforderung dar. Vergangene Woche noch am Strand in Spanien auf Meeresspiegelhöhe, bereite ich mich nun, fünf Tage vor dem Wettkampf auf eine Schnellakklimatisierung vor. Wie das geht? Ruhe bewahren und viel trinken. Nicht zu viel wollen. Schlaf finde ich in der ersten Nacht nur bedingt. Die Zeitumstellung trägt ihr Übriges dazu bei. Es bleiben ja noch ein paar Tage, um den Körper und dessen Rhythmus einigermassen anzupassen.
Vom Event, dem Leadville 100 Run spürt man bis zwei Tage vor Start noch nichts in der Stadt. Alles sehr relaxed. Hier und da werde ich auf den Strassen angesprochen. Ob ich für den Lauf hier sei? Man fällt auf als Fremder. Neben dem 100 Meiler gibt es über den Sommer noch verschiedene andere Ausdauersport Veranstaltungen der Leadville Race Series. Leadman oder Leadwoman kann sich jeder nennen, der an fünf zermürbenden Wettkämpfen teilnimmt. Ab Ende Juni stehen bis Ende August ein Trail Marathon, ein 50 Meilen Mountainbike Race oder wahlweise 50 Meilen Trail Lauf, ein 100 Meilen Mountainbike Rennen, am Folgetag ein 10 Kilometer Lauf und als Abschluss dann der Leadville 100 Run auf dem Programm. Im Ort gibt es immer wieder den ein oder anderen, der sich daran versucht. Sportlich, die ehemaligen Goldschürfer.
Die restlichen Tage verbringe ich mit Bekannten bei Kaffee, gutem Essen und der Detailplanung für das Wochenende. Lokale Lauffreunde versorgen mich mit sehr wertvollen Insiderinformationen. Katy, bislang sechs Teilnahmen und ihr Mann Bruce, neun Teilnahmen, kennen den Kurs und jedes Detail aus dem Effeff. Joel, Eliteläufer und späterer Siebtplatzierter hat Tipps zu Strategie und Ausrüstung. Und Mike, Laufkollege aus Texas, verbringt seine sportlichen Wochenenden bevorzugt in der rauen Gegend hier oben. Ein Wissenspool, der viele Unbekannte im Vorfeld aus dem Weg räumt.
Am Freitag beginnt dann der Wettkampfstress. Wenn man es Stress nennen kann. Es geht sehr gemütlich und easy zu. Das Briefing auf dem Football Feld erinnert eher an ein Rockkonzert. Auf einer überdimensionierten Bühne wechseln sich Motivationsplattitüden mit Videoclips vergangener Austragungen ab. Wichtige, neue Informationen zum Wettkampf gibt es nicht wirklich.
Im Anschluss Startnummernausgabe und Abgabe der Drop Bags. Und dort beginnt schon ein wichtiger Teil des Wettkampfes. Es gibt im Total fünf Möglichkeiten, Zip Lock Beutel mit Wechselkleidung, Verpflegung, extra Schuhen etc. zu deponieren. Da es sich um eine Wendepunktstrecke handelt, hat man auf jeden Beutel zweimal Zugriff. Das kenne ich von anderen Rennen so intensiv nicht. Meine vertrauten Insider haben mich motiviert, jeden Beutel mit allem, was ich so an Kleidung mithabe, Essen, kleinen Goodies (Schokolade) und zusätzlichen Stirnlampen, Handschuhen, Mützen auszustatten. Bei solch einer überlangen Distanz kann viel passieren. Bei Wetterumschwung oder sonstigen Unvorhersehbarem habe ich somit ein Backup. Und man muss die Dinge nicht für die gesamte Strecke mit sich mitschleppen.
Pre Race Szenarien
Etwas beschäftigt mich noch. Am vergangenen Samstag, zwei Tage vor Abflug habe ich mir am rechten Fuss den grossen und den zweiten Zeh schmerzhaft unter einer Tür angeschlagen. Anfangs noch vorn aufgeplatzt, ist die Wunde mittlerweile trocken. Der zweite Zeh weist eine merkwürdige schwarze Färbung auf. Nicht blau oder gelb, schwarz. Gebrochen? Ich denke nicht, kann die Gelenke bewegen. Ein Schmerzpunkt liegt dort, wo die Zehen am Fuss ansetzen. Mein Hauptaugenmerk liegt an der Schmerzlinderung. Eine antibiotisch wirkende Salbe soll unterstützen. Und heute, am Vortag des Rennens, meditiere ich in den Zeh. Hokuspokus? Nicht, wenn du dran glaubst. Und ich bin fest überzeugt, mittels Meditation lernt man seinen Körper besser kennen und kann Unliebsames abstellen. Es gibt nichts zu verlieren. Morgen weiss ich mehr.
Ab dem Nachmittag gibt es dann nur noch eine bevorzugte Stellung: Beine hoch. Nochmal gut verpflegen und um 20.00 Uhr bin ich im Bett. Ein paar Stunden Schlaf, bevor der Wahnsinn endgültig los geht. Vor Wettkämpfen bin ich unterdessen so entspannt, dass ich schnell in süsse Träume falle.
Der Wecker klingelt um 2.40 Uhr. Bis zum Start um 4.00 Uhr bleibt genügend Zeit für Frühstück, Körperhygiene, und um die sorgfältig bereitgelegten Sachen und Ausrüstungsgegenstände am Körper zu montieren. Alles in Ruhe, Stress kann ich jetzt keinen gebrauchen.
Um 3.30 Uhr begleitet mich Mike zum Start. Vom Appartement aus ist es ein fünfzehn Minuten Fussweg bis zur sechsten Strasse. Es wuseln schon einige Läufer inklusive ihrer Entourage mehr oder weniger aufgeregt durch die Nacht. Alles Verrückte. Auf der Suche nach der nächsten Goldader. Der Ort hat schon immer Outlaws und Glücksjäger angezogen. In der Moderne sind das die Trail Läufer.
Und dann geht es schnell. Kurze Ansprache von Ken und Merilee. Das „Diiiiig Deeeeeep“ darf dabei nicht fehlen. Und Ken untermauert seine patriotische Haltung noch mit den Worten: „… und wenn ihr ein Wort braucht, um euch in Bewegung zu halten, erinnert euch an Leadville. Leadville ist das Einzige, was ihr braucht und wo ihr hinwollt!“ Und schon ertönt, mit melancholischer Stimme vorgetragen die Nationalhymne der Vereinigten Staaten. Voller Stolz und mit der rechten Hand am Herz singen die einheimischen Teilnehmer inbrünstig mit. Der erste Gänsehautmoment des noch so jungen Tages.
Im Anschluss verbleiben noch wenige Sekunden. Der Speaker zählt von zehn herunter und mit einem lauten Knall aus einem Drilling schickt Ken Punkt 4.00 Uhr die Läufer auf die Strecke.
Die ersten acht Kilometer des Kurses führen von Leadville hinunter zum Lake Turquoise. Eine gute Möglichkeit des Einrollens. Das Feld ist kompakt, es bietet sich aber ausreichend Möglichkeiten zum Überholen auf der breiten Kiesstrasse, auch Boulevard genannt. Es läuft. Nice downhill. Ich möchte jetzt noch nicht daran denken, dass diese Passage, in umgekehrter Richtung, ja auch die letzte im Rennen sein wird. Joel gab mir den Tipp, in diesem Bereich ein wenig Tempo zu machen und nicht im Feld zu verharren. Sobald der See erreicht ist, geht es auf einem Singletrail entgegen dem Uhrzeigersinn um ihn herum. Wenn man da hinten ansteht, wird das Überholen schwer.
Und so cruise ich auf dem herrlich flowigen Trail durch die Dunkelheit. Ganz scheu kommt etwas Morgendämmerung auf. Meine Gedanken sind im Hier und Jetzt. Ich verfolge die pinken Markierungsflaggen und geniesse die Ruhe und Abgeschiedenheit.
Doch plötzlich werde ich aus dieser Lethargie gerissen. Vor mir stauen sich Stirnlampen auf. Es wird diskutiert. Was ist passiert? Fast unglaublich haben wir uns verlaufen. Wir stehen im Wald auf einem Fahrweg ohne Markierungen. Etwa zwanzig Läufer. Wir wissen, der Trail führt am See entlang. Also machen wir uns quer durch das Buschwerk in Richtung schwarzes Loch. Mehr ist vom Lake Turquoise nicht zu sehen. Von hinten kommen weitere Lichtkegel angerannt. Diese aber auf dem richtigen Pfad. Das Ungeschick kostet nicht wirklich Zeit und lässt mich schmunzeln. Diese Geschichte verfolgt mich. In nahezu jedem Wettkampf komme ich irgendwann vom Weg ab. Hier ist es früh im Rennen. Und es soll auch das einzige Mal bleiben.
Aus dem Missgeschick lerne ich. Statt den anderen Mitstreitern zu folgen, setze ich mich an die Spitze der Verirrten und ergreife die Flucht. Schon bald ist der Abstand so gross, dass ich wieder in diesen angenehmen Trott verfallen kann. Solange es geht, trägt mich das Mantra: so laufen, wie ich den ganzen Tag laufen kann.
Die erste Verpflegungsstelle Mayqueen ist erreicht. Knapp zwei Stunden habe ich für die Strecke von 12.6 Meilen, also 20 Kilometern gebraucht. Das war übrigens auch Teil der direkten Wettkampfvorbereitung: sämtliche Distanzen von Meilen in Kilometer umzurechnen. Im Silver Dollar Saloon in Leadville lag die Herausforderung in der Umrechnung von Ounce in Liter beim Bestellen eines Bieres. Das muss ich hier nicht. Meine Wasserflaschen sind noch gut gefüllt. Ohne Stopp presche ich durch die Aid Station.
Für den Moment ist das lockere Laufen auf mehr oder weniger flachem Gelände vorbei. Von Mayqueen aus geht es hinauf zum Sugarloaf Pass. 400 Höhenmeter, sollte kein Killer werden. Und doch zeigt es mir das erste Mal die absolute Höhe auf. Der Pass liegt auf knapp 3‘400 Meter. Im schnellen Gang mit Unterstützung der Trail Stöcke nehme ich den Anstieg in Angriff. Anfangs auf steinigem Singletrail, später auf breiter Schotterpiste geht es bergan. Je höher wir kommen, desto mehr spüre ich ein fieses Stechen in den Oberschenkeln. Wie ein schleichend aufkommender Muskelkater. Small Talk mit anderen Läufern lenkt davon etwas ab. Es lässt sich aber nicht schönreden, in der Höhe habe ich keine Power. Sicher ein Resultat der kurzen Zeit vor Ort.
Von früheren Läufen in Höhen jenseits der 4‘000 Meter, ja sogar auf über 5‘000 Meter weiss ich, dass das nachlässt, sobald man wieder herunterkommt. Ich freue mich bereits richtig auf das lange, steile Bergabstück entlang einer ständig surrenden Stromleitung, Powerline genannt. Auch wenn die Beine hier schmerzen, mehr noch als beim Anstieg, sollte jeder negative Höhenmeter Linderung bescheren.
Es läuft in Colorado
Von hier ist die nächste Verpflegungsstelle bereits sichtbar. Es ist noch ein ganzes Stück, bis Outward Bound erreicht ist. Kilometer 38. Schon fast ein Marathon. Unweigerlich kommt mir die Ansage eines Laufkollegen in der Heimat in den Sinn: 160km sind doch nur zwei Marathons hin und zwei zurück. Alles also halb so wild.
In Outward Bound versammeln sich früh am Tag Betreuer und Zuschauer. Die Helfer an den Verpflegungsständen nehmen mir direkt die Wasserflaschen ab. Gefüllt und wieder verschlossen werden mir diese keine zwei Minuten später wieder entgegengestreckt. Ich ersetze die leeren Verpflegungspackungen durch neue kalorienreiche aus dem Drop Bag. Auch dieser steht bereits bereit, sobald ich das Zelt erreiche. Die Helfer geben alles, um jedem Teilnehmer, egal ob Top Läufer oder Jedermann maximalen Support zu bieten.
Und schon bin ich wieder unterwegs. Vier Wettkampfstunden sind um. Ich bin etwas vor meinem Zeitplan. Künstlich verlangsamen bringt nix. Das folgende Stück wird das langweiligste. Flach, teilweise auf geteerter Strasse. Kopfrunter und durch. Sind ja nur ein paar Kilometer. Und schon ist der nächste Checkposten erreicht, Half Pipe. Wir sind bei Kilometer 47. Da ich mich ausgiebig an Outward Bound mit allem Notwendigen beladen haben, fülle ich nur schnell meine Wasserflasche und verlasse den Verpflegungspunkt nach nicht einmal einer Minute.
Auf dem Rückweg wird es hier bereits dunkel sein. Jetzt zeigt mir die Uhr vor neun Uhr am Morgen. Der ganze Tag und auch der Grossteil des Rennens liegen noch vor mir. Was geht mir im Kopf herum? Ruhig bleiben, immer einen Fuss vor den anderen. Essen, trinken. Körperscan. Alles im grünen Bereich. Ich bin noch nicht im Ultra Modus. So langsam versuche ich mich auf den überlangen Tag, bzw. die unvorhersehbare Zeit, die ich hier draussen verbringen werde, einzustellen. Dieses Teilstück ist wirklich langweilig. Ich muss mit meinen Kräften haushalten. Zweifel, die Ziellinie zu sehen, habe ich keine. 30 Stunden sind ausreichend. Die Strecke fordert bislang keine besonderen Ansprüche. Noch nicht. Ich verstricke mich in Strategiegedanken. Und verliere mich in ihnen.
Ich bin mir nicht sicher, ob dieses zu viele nachdenken, die öde Schotterpiste oder die fehlende Laufpraxis in diesem Sommer dazu führt. Aber plötzlich beginne ich beim Laufen mit Gehpausen abzuwechseln. Irgendetwas in mir blockiert schnelle Schritte. Es ist Rennen und ein schnelles Gehen, die sich abwechseln. Das ist normal bei Ultraläufen. Sollte aber erst später eintreten.
Und so freue ich mich auf den leichten Anstieg zum Mini Mt. Elbert. Hier kann ich ohne schlechtes Gewissen mit Stockeinsatz und straffem Marsch hinauf. Gleichzeitig sammle ich wieder Kraft. Auch im Kopf. Den nachfolgenden, auf weichem Untergrund, sich durch lichten Kiefernwald schlängelnden Singletrail bin ich vor zwei Tagen schon einmal gelaufen. Und ich geniesse ihn nun umso mehr. Der Laufschritt ist zurück.
Partymeile Twin Lakes und die Vorbereitung auf den gefürchteten Hope Pass
Nur für kurze Zeit. Von weit oben sind bereits tosende Menschenmassen hörbar. Mike hat mich auf diese Verpflegungsstelle vorbereitet, bzw. was die Läufer hier erwartet. Twin Lakes heisst dieses kleine, ein paar Häuser zählende Kaff. Beim Leadville 100 wächst die Zahl der temporären Einwohner um ein Vielfaches an. Vom Trail aus, etwa hundert Meter über dem Ort, ist eine kilometerlange, beidseits der Strasse am See entlang aufgereihte, parkende Autokolonne sichtbar. Am Geschrei, der Musik und dem Rasseln von irgendwelchen lärmenden Instrumente lässt sich bereits weit vor Erreichen dieses Checkpostens die Ankunft jedes Läufers erahnen, der durch das Spalier hindurchmuss.
Ein letzter kleiner Hügel und der Blick ist frei auf die Partymeile. Es geht schnell. Nach der Zeitmessmatte kommt schon ein Helfer auf mich zu gerannt. Brauche ich meinen persönlichen Beutel? Wie sieht es mit Wasser aus? Was möchte ich an Verpflegung? So schnell kann ich gar nicht antworten, wie er mir die Fragen entgegenwirft. Und das alles in einem tosenden Hexenkessel. Stimmengewirr, Schreie, Applaus, irgendwelche Tonkunst – ein Mix aus motivierenden Phrasen. Awesome, amazing, great! Das ist mir von den Sätzen, die mir entgegengeschleudert werden, geblieben. Die Begeisterung der Amis erreicht hier ihren Höhepunkt.
Lässt mich das kalt? Für den Moment, ja. Voller Ruhe tausche ich leere Verpflegungsverpackungen gegen volle aus. Rüste mich für den kommenden Ritt über den gefürchteten Hope Pass. Trinke. Verpacke alles Übrige wieder im Dropbag und schon bin ich wieder im Spalier zwischen den Zelten, Betreuern, applaudieren Massen. Irgendwie erkenne ich Mike. Kurzes Nachfragen, ob ich ok sei. Ja, ich fühle mich gut. Er warnt mich nochmals vor dem Pass. Ruhig angehen, die kommende Sequenz trennt die Spreu vom Weizen. Bis hierhin war alles Kindergeburtstag. Nicht überpacen. Ich bin schnell dran. Immer noch vor meiner errechneten Zwischenzeit.
Und schon bin ich wieder allein. Der Lärmpegel verbleibt mit jedem Schritt hinter mir. Zwei, drei Kilometer und ich stehe am Lake Creek, dem Fluss, der die beiden Seen mit Wasser versorgt. Nach den Regenfällen der vergangen Tage (und es regnet immer irgendwann im Laufe des Nachmittages) ist der Pegel über Knietiefe angewachsen. Zur Sicherheit hat der Veranstalter beim ersten zu durchquerenden Abschnitt ein Seil zum Halten gespannt. Die Strömung ist stark. Die losen, groben Steine lassen sich nur per Abtasten mit den Schuhen erahnen. Ein Läufer vor mir zieht die Schuhe aus. Halte ich nicht für nötig. Die Erfahrung aus anderen Rennen mit Flussquerungen und natürlich die unverzichtbare Gehwol Fusskrem geben mir ein gutes Gefühl.
Die Schuhe laufen sich auf dem folgenden kurzen grasigen Singletrail schnell trocken. Also gefühlt trocken. Das Wasser ist zumindest entwichen.
Es geht in den Anstieg. Steinig, über Wurzeln, steil entlang eines entgegenkommenden, sich herabstürzenden, wilden Bergbaches im Wald hinauf. Tempo reduzieren. Nicht zu viel Druck machen. Auf den wenigen Kilometern bis zur Verpflegungsstelle unterhalb des Hope Passes werde ich von einigen Läufern überholt. Man ist eigentlich nie allein auf der Strecke. Irgendjemand ist immer in Sichtweite.
Was aber ist das Besondere an diesem Pass? In unseren Trainingsgefilden gibt es auch Alpenpässe und ich habe erst im Juli bei der Nord-Süd-Alpenüberquerung 52 dieser Bergübergänge überschritten. Der Höchste dabei war 2‘800 Meter hoch. Und das ist der entscheidende Faktor. Der Leadville 100 findet praktisch immer über 3‘000 Metern statt. Der tiefste Punkt liegt gerade hinter uns. Die Flusssektion am Twin Lakes. Und von dort geht es nun brutal, auf direktem Wege hoch auf 3‘800 Meter. Das ist ein Riesenunterschied. Klingt nach ein paar Metern Höhe mehr. Macht betreffend Sauerstoffversorgung aber viel aus.
Lieber langsam und stetig mit gleichmässigen Schritten als überhastet in die ungewohnten Höhenlagen. Viel trinken, immer wieder trinken. Am Verpflegungspunkt erwarten uns neben den Helfern auch etwa zwanzig Lamas. Es gibt keine Strasse hier herauf. Sämtliches Equipment und die bereitgestellten Getränke wurden seit Dienstag mit Lamas hierher transportiert. Amazing!
Das letzte Teilstück bis rauf zum Pass verläuft über ein paar gut einsehbare Kehren oberhalb der Baumgrenze. Diese liegt hier in den Colorado Rocky Mountains wesentlich höher als bei uns. Günstiges Klima lässt die Waldgewächse bis auf 3‘500 Meter emporspriessen.
Irgendwie schaffe ich es ohne Schnappatmung bis zu den Gebetsflaggen an der Passhöhe. Dunkle Wolken lassen nichts Gutes Erahnen. Noch schnell ein Erinnerungsfoto und hinein in den Abhang auf der anderen Seite des Passes. Keine zehn Minuten später hat sich der Himmel auf nächtliches Niveau verdunkelt. Schleusen auf und raus aus den Wolken was geht. Während wir stoppen und uns die Regenjacken überwerfen, kommen uns die Spitzenläufer, die bereits auf ihrem Rückweg sind, entgegen. Im Shirt, eine Wasserflasche in der Hand, der ein oder andere auch mit einer leichten Jacke. Insgesamt sehen sie recht relaxt aus. Sie sind allesamt an die Höhe angepasst und trainieren während Monaten in der Gegend.
Davon kann ich grad nur träumen. Der Regen, die Höhe, das steil abfallende Terrain, der schlüpfrige Untergrund – diese Kombination haben mir den Stecker gezogen. Meine Beine fühlen sich leer an. Die Oberschenkel brennen. Mehr wankend als gehend taste ich mich die vier Kilometer hinab ins Tal des Clear Creek. Bis zum Wendepunkt in Winfield ist es nur noch sechs Kilometer. Hügelig rollt die Strecke dahin. Immer mehr Läufer kommen entgegen. Der Regen hat aufgehört, die Sonne kommt raus. Das motiviert.
Kurz vor dem Checkposten erkenne ich dann auch Bruce. Er sieht gut aus und ist solide unterwegs. Seinem zehnten Finish scheint nichts im Wege zu stehen. Ein knappes „hi“ und ein paar Floskeln. Und weiter geht’s bis zur Zeitmessmatte am Wendepunkt.
Am Verpflegungspunkt nehme ich mir richtig Zeit. Eine Bouillon, ein paar Nudeln (diese asiatische Fertigsuppe ist die einzig warme Verpflegung, die bereitgestellt wird), ich sortiere meinen Rucksack neu. Die komplette zweite Garnitur an Laufsachen, die ich hier im hinterlegten Beutel deponiert habe, benötige ich nicht. Noch ein wenig ausruhen und Ruhe tanken und ich bin wieder unterwegs. Die gelaufenen 80 Kilometer geht es nun in umgekehrter Richtung zurück. Katy fliegt mir entgegen. Sie erreicht den Checkposten auch sehr konstant.
Zweite Runde Hope Pass
Das Anlaufstück bis zum Passanstieg nutze ich, um meinen Körper zu sortieren. Die Beine waren beim Bergabstück verdammt schwer. Und bald geht es dieses steile Stück hinauf. Ich muss Tempo rausnehmen. Die Kraftwerke der Muskelzellen schreien nach mehr Sauerstoff. Der fehlende Partialdruck hier in der Höhe Colorados macht sich schmerzhaft bemerkbar. Bereits kurz nach dem Wiedereinstieg zum Pass muss ich mich kurz sammeln. Übelkeit kommt auf. Ich will hier nicht lange verharren. In meinem Kopf gibt es nur eine Richtung. Ich weiss genau, sobald ich den Pass überschritten habe, geht es geländemässig bergab und körperlich bergauf. Es ist eine Qual. Nicht schön mit anzusehen. Immer wieder stopp auf die Stöcke gestützt. Ein Gefühl des Erbrechens schleicht sich ein. Ich will allerdings partout nichts hergeben, was ich an Energie über die Nahrung aufgenommen habe.
Katy überholt mich wild keuchend. Sie ist weit nach vorn gebeugt und stützt sich mit den Händen auf den Knien. Immer wieder wird ihr Rhythmus durch tiefe Atemzüge unterbrochen. Es geht also nicht nur mir schlecht. Sie wird mir später berichten, dass sie diese Passage nur mit Gewalt nehmen konnte.
Ich fühle mich dem Himmel so nahe. Nicht nur der Höhe wegen. Mein Körpergefühl ist auf Apathie gestellt. Die Umgebung, die anderen Teilnehmer, es verschwimmt alles etwas. Ich bin am Sterben. Diesen Tod, den man als Ultraläufer gern stirbt. Es sind nur noch vielleicht 200, 100 Höhenmeter. Ich sehe die letzten Kehren an der Passhöhe. Und bringe auch dieses Mal den Anstieg hinter mich. Er hat mich nicht kleingekriegt, der ikonische Hope Pass. Ein ungeschriebenes Blatt sagt: wer beim Leadville 100 den Hope Pass von beiden Seiten bezwungen hat, hat eine gute Chance, die Ziellinie zu sehen.
Mit diesem Ansatz im Hinterkopf cruise ich zurück nach Twin Lakes. Die nimmermüden Betreuer der Läufer lärmen noch immer vor sich hin. Es ist später Nachmittag. Die vergangenen 40 Kilometer haben mich acht Stunden gekostet. Das hatte ich für meinen Rennverlauf anders geplant. Aber so ist das bei einer langen Distanz. Es ist nichts komplett planbar. Unvorhergesehene Umstände machen es umso spannender.
Mit mir stirbt dann auch gerade meine Laufuhr. Die Powerbank, die die Uhr laden soll, verrichtet nicht den gewohnten Dienst. Brauche ich die Uhr? Nein. Ich kenne die Strecke. Einzig das maximale Zeitfenster von 30 Stunden interessiert mich. Das sollte ich irgendwie im Auge behalten. Dafür habe ich notfalls mein Handy. Alles Utensilien, die die spärlich ausgerüsteten Eliteläufer getrost zu Hause gelassen haben.
Unerwartete Begleitung
Im Wechselbeutel habe ich für diesen Stopp ein kleines Goodie eingepackt. Als Belohnung für die Passquerung. Eine silbrig leuchtende Dose Budweiser ergänzt mein Angebot an Erfrischungsgetränken. Gemischt mit Cola soll es mich in die hereinbrechende Nacht puschen. Dieses Mal nehme ich mir wieder richtig Zeit am Verpflegungsposten. Neue Socken (lange, warme), ein langes Oberteil und eine zusätzliche Stirnlampe entnehme ich meinem persönlichen Beutel. Mike ist hier und organisiert mir alles, was ich benötige. Er nimmt meine Uhr mit zum Aufladen. Am nächsten Checkposten wird er sie mir ausreichend geladen für den Rest der Strecke zurückgeben. Wenn das doch nur auch mit meinen Beine ginge.
Das ist übrigens ein grosser Unterschied zu den Rennen in Europa. Hier hat gefühlt jeder Läufer seine Betreuer dabei. Diese fahren dann von Verpflegungsstelle zu Verpflegungsstelle und umsorgen ihren Schützling mit allem Notwendigen. Die Anfahrt zu diesen Punkten ist jeweils einfach zu bewerkstelligen. Essen wird vorbereitet bereitgestellt. Das wäre übrigens einer der wenigen Kritikpunkte beim Leadville 100. Von Chips, Hühnersuppe, Cola und anderen Süssgetränken und ein paar Früchten bestreitet man keine 160 Kilometer. Aber eben, es ist eine andere Kultur: die Läufer bringen sich feste Nahrung mit, bzw. haben ihre Crew, die sich darum kümmert.
Und noch etwas ist anders als bei meinen bisherigen Ultrarennen. Ab diesem Checkposten hier in Twin Lakes, also ab Kilometer 100 kann der Läufer einen Pacer einsetzen. Einen was? Sagen wir mal eine Begleitung. Denn der Begriff Tempomacher trifft nur für die Pacer der führenden zu. Für alle anderen ist es eher eine Hilfsperson auf dem Weg zurück nach Leadville. Diese Begleiter werden auch gern als Packesel bezeichnet. Sie dürfen sämtliches Equipment der Läufer tragen. So sieht man auch auf den verbleibenden 60 Kilometern die Top 10 einzig mit der Wasserflasche am Handgelenk. Zusatzkleidung, Nahrung etc. ist im Rucksack des Pacers.
Ich bin mir das so nicht gewöhnt. Ich mag es, allein zu laufen. Mike will mich auf den letzten 40 Kilometern des Rennens begleiten. Er hat sich die Pacer Startnummer bereits geholt. Alles gut organisiert, immer nur ein Pacer pro Läufer ist erlaubt. Hier in Twin Lakes stehen nun erwartungsvoll diese Pacer und warten auf ihre Athleten. Wenn diese es über den Hope Pass schaffen. Wir kommen ins Gespräch mit einer Pacerin, deren Läuferin es nicht innerhalb der erforderlichen Zeit über die Passhöhe schaffte. Diese Läufer werden aus dem Rennen genommen und müssen zurückwandern nach Twin Lakes. Nicole aus Wisconsin sah sich nun nach einem Läufer um, der eine Begleitung für die kommenden Kilometer sucht.
Mike gibt ihr zu verstehen, dass ich lieber allein laufe. Und das er ab dem Checkpoint Outward Bound mit mir unterwegs sein wird. Und das Gespräch ist für den Moment beendet. Je länger ich so sitze und mich verpflege, freunde ich mich mit dem Gedanken an, dass mich jemand in die hereinbrechende Nacht begleitet. Von meinem kurzzeitigen Tod hatte ich mich erholt. Ich wollte aber versuchen, die anstehenden Kilometer im Laufschritt zu bewältigen. Und dafür wäre etwas Motivation gar nicht so schlecht.
Nicole steht immer noch hinter mir. Wir tauschen schnell ein paar Worte aus und stimmen uns über die Zusammenarbeit ab. Bis wohin sie mich begleiten wird (bis zur Übergabe an Mike bei Outward Bound), was ich beim Laufen mag und was nicht (zum Glück hat sie keine Musik dabei), dass ich mittlerweile sehr langsam unterwegs bin (sie wird in sechs Wochen ihren ersten 100 Meiler bestreiten und sucht genau diese Erfahrung). Und dann geht es los. Raus aus dem Partytempel Twin Lakes und über den knackigen Anstieg, der mir am Morgen beim bergabcruisen gar nicht so steil vorkam, zurück auf den flowigen Trail mit Blick auf die beiden Seen.
Die Nacht bricht herein
Das mit dem Blick sollte sich schon rasch erledigen. Hinein in den Wald und es ist, als hätte jemand das Licht ausgeschaltet. Die Stirnlampen sind bereits montiert. Zwei Lichtkegel leiten uns an immer mehr Läufern vorbei. Es hat wirklich jeder einen Pacer. Ganz vereinzelt taucht mal ein alleiniger Läufer auf.
Am Mini Mt. Elbert erreichen uns erste Tropfen. Nicole ist eine verlässliche Begleitung. Wir bahnen uns weiterhin den Weg durch die Dämmerung. Small Talk. Ein paar Worte zu ihrem bevorstehenden Wettkampf. Ich bin im Renntempo. Aus den Tropfen wird heftiger Regen. Wir schaffen es gerade noch rechtzeitig, die Regenjacke überzustülpen. Mit dem Wasser kommt die Kälte. Während die Temperaturen tagsüber auf 25 Grad kletterten, fallen sie nun rasch wieder in den einstelligen Bereich.
Mike sollte an der Aid Station Half Pipe, 15 Kilometer nach Twin Lakes, auf uns warten. Aufgrund der Regenvorhersage wollte er schauen, ob wir etwas benötigen. Noch bevor wir ihn erspähen können, überrascht mich meine Pacerin. Ob sie hier bereits stoppen könne und mit Mike die verbleibende Strecke zum Outward Bound im Auto fahren könne, war ihre dringende Frage. Aber klar, ich bin es ja gewohnt, allein zu laufen. Sie hat kalt. Und genug von der gemeinsamen Nacht 😉. Ehe ich mich versah, sass sie im warmen Fahrzeug. So schnell sie auftauchte, so schnell war sie auch wieder weg. Nichtsdestotrotz bin ich Nicole sehr dankbar für diese gemeinsamen Meilen. Dank ihrer Ablenkung konnte ich einen Grossteil davon rennend zurücklegen.
Der Regen hatte aufgehört und der Himmel zeigt sich sternenklar. Für die Wechselkleidung, die mir Mike reicht, bin ich sehr dankbar. Warm von Kopf bis Fuss geht es weiter durch die Nacht. Es ist nicht mehr weit bis zum Verpflegungsposten Outward Bound, bei dem Mike laufbereit auf mich wartet.
Auf einer unendlich scheinenden Weidefläche quittiert die Stirnlampe mit dreimal kurzem Blinken ihren Dienst. Unter Hilfe der schwächeren Ersatzlampe konnte ich den Akku des lichtstarken Scheinwerfers schnell wechseln. Dafür musste ich den Rucksack abnehmen und die Trail Running Stöcke beiseitelegen. Nachdem alles wieder verpackt war, bin ich bereit für den Katzensprung bis Outward Bound. Vielleicht noch zwei Kilometer. Die festlich beleuchteten Pavillonzelte strahlen weit über die Ebene.
Mit dem Pacer geht es ans graben
Mike wartet vor dem Checkposten. Es soll nochmal eine Möglichkeit für solide Verpflegung sein. Auf meine Nachfrage nach einem heissen Tee in der Kälte ernte ich wiederholt ein Kopfschütteln. Eine Helferin allerdings fragt, ob eine heisse Schokolade auch in Ordnung sei. Juhui! Eine kleine Freude in der Nacht. Mit wärmendem Schokoladenkrug sitze ich an einem Gasheizer. Die Wärme hier im Zelt verführt. Verführt zum Träge werden. Nicht zu lange verweilen. Raus und weiter.
Dig deep! Grabe tief! Spätestens ab diesem Punkt hier kommt die Motivationsfloskel aufs Tablett. 125 Kilometer liegen hinter mir. Outward Bound verlassen wir zu zweit auf einem Stück asphaltierter Strasse. Ich kann die Verantwortung eines erfolgreichen Zieleinlaufes vor Ladenschluss nun teilen. Mike ist frisch und bereit. Und meine Uhr ist wieder voller Saft. Die Energiereserven im Rucksack sind aufgefüllt. Es ist irgendwas um 22.00 Uhr. Seit 18 Stunden unterwegs. Der Sieger ist bereits über die Finishline. Für mich bleiben noch 38 Kilometer. Unendliche Kilometer. Das härteste Stück liegt noch vor uns.
Wo soll man denn da eigentlich graben? In mir, ja. Aber was kommt dann zum Vorschein. Was treibt uns weiterhin an, wenn wir tief in uns gehen? Es ist zum einen Erfahrung, die bereits Erlebtes mit der aktuellen Situation abgleicht. Haben wir schon einmal Ähnliches durchgemacht, wird die Bewertung einfacher ausgehen als bei komplett neuen Eindrücken. Vor dem Wettkampf bereits positive Bilder in unserem Oberstübchen hinterlegen und diese in schwierigen Umständen abrufen, hilft ebenso. Ich programmiere mir hierfür gern einen Film. Je nach Stimmung, über die Entwicklung während der ersten Jahre der Kinder oder auch eine Reise, die Eindrücke hinterlassen hat. Wichtig: VOR dem Wettkampf bereits festlegen, was im Gehirn gefunden werden soll. Ansonsten kann man graben und graben und bekommt die ganze Kiste an Filmspulen geliefert.
Was auch funktioniert sind fiktive Bilder, die wir uns im Kopf zurechtlegen. Das kann die Überquerung der Ziellinie, freudestrahlend und mit erhobenen Armen oder ein Bild mit Medaille um den Hals oder zuoberst auf dem Siegerpodest sein. Gute physische Vorbereitung und gezieltes Training sind auch von Vorteil, wenn es im Wettkampf nicht so läuft. Klingt logisch? Ja, aber warum höre ich dann oft: ich habe so viel trainiert und doch musste ich den Wettkampf vorzeitig abbrechen. Oft sind die Intensitäten einfach zu hoch. Das hat nicht viel mit sinnführendem Training zu tun. Natürlich, es stärkt das Selbstvertrauen, wenn es im Training läuft.
Zweifel werden im Vorfeld beseitigt. Das ist ein weiterer Punkt, auf den man sich berufen kann, wenn der Schweinehund besiegt werden muss. Selbstvertrauen ist ein wichtiger Schlüssel zum Erfolg. Zweifel sind wie eine angezogene Handbremse, die im schlimmsten Fall komplett blockieren kann. In den vergangenen Jahren und mit zunehmender Lebensreife ist aber noch etwas ganz anderes elementar geworden. Ich brauche eine innere Zufriedenheit, um leistungsfähig sein zu können. Zufriedenheit mit sich selbst, seinem Umfeld, seinem Lebensstil, seinem Dasein. Wettkämpfe sind für mich vom Kampfcharakter abgekommen. Es ist jeweils eine Reise, auf die ich mich begebe. Hier in Leadville über satte 161 Kilometer.
Die Bilder in meinem Kopf sind etwas vernebelt. Aber wenigstens da. Ein Laufschritt ist nur noch bedingt möglich. Es ist kein Schmerz, der mich blockiert. Vielmehr die Müdigkeit in den Beinen, im ganzen Körper. Schemenhaft nehme ich einzelne Anfeuerungsrufe vom Streckenrand wahr. Das positive Lächeln ist einem starren Gesichtsausdruck gewichen. Überlebenskampf. Gedanklich immer mit positiven Ausgang spielend. Zufrieden.
Es ist stockdunkel. Das Surren der Powerline kommt näher. Diese Elektroleitung, an der es früh morgens steil bergab ging. Verunsichert, ob ich bergab oder bergan bevorzuge, stehe ich schon im steilen Anstieg. Die Arme treiben die Stöcke in den harten Untergrund. In diesem Moment leisten sie gefühlt mehr Arbeit als die Beine. Zweieinhalb Stunden habe ich für die zehn Kilometer bis rauf zum Sugarloaf Pass benötigt. Es soll der letzte lange Anstieg, der letzte steile Anstieg sein.
Eine halblegale, zumindest in keiner Streckenausschreibung auftauchende Verpflegungsstelle erwartet uns mit lauter Musik. Ich nehme wahr, dass das Motto der begeisterten Betreiber dieses kleinen Festplatzes mitten im Wald Freiheit und eine alternative Lebensform ist. Dementsprechend sind auch die Angebote gestaltet: Mike kippt auf ex einen Whiskey runter. Nein danke, mir ist im Moment richtig übel. Beim Vorbeigehen bietet mir eine in ein langes Gewand gehüllte, an einem Lagerfeuer stehende Frau im besten Alter irgendwelche Drogen an. Nein danke, mir ist schwindelig genug. Taumelnd verlasse ich diesen geheimnisvollen Ort.
Der folgende Teilabschnitt ist mir nur schwach in Erinnerung. Es geht über eine sich in die Länge ziehende Schotterpiste runter bis zum Beginn des Lake Turquoise. Dort erwarten uns an der letzten Verpflegungsstelle Mayqueen unermüdlich applaudierende Zuschauer. Crewmitglieder der anderen Läufer. Ebenso Ausdauerathleten, die den ganzen Tag unterwegs sind. Und sich hier die Nacht in Campingstühlen mit Warten um die Ohren schlagen.
Sitzen, erst einmal sitzen. Vier Stunden sind wir von Outward Bound unterwegs. Für 18 Kilometer. Das Ding zieht sich. Mantraartig rede ich immer wieder auf mich ein. Ein Fuss vor den anderen. Es bleibt genug Zeit. Ich muss nur irgendwie durchkommen. Noch 20 Kilometer. Das ist nur noch ein Halbmarathon. Ein Klacks. Wenn nur diese schwere Müdigkeit nicht wäre.
Die Müdigkeit kennt keine Gnade
Weiter. Immer weiter. Das Gehen ist zum Wanken verkommen. Die Augen fallen mir zu. Ich ertappe mich, wie ich bei einem Schritt einschlafe. Einzig die Stöcke können einen Sturz verhindern. Mike versucht mich mit Gesprächen wachzuhalten. Das funktioniert bedingt. Andere Läufer in ähnlicher, der Wettkampfzeit entsprechend rasanter Geschwindigkeit tauchen immer wieder auf. Meine Fantasie gibt sich ihren Lichtkegeln hin. Ich sehe Häuser. Mitten im Wald. Die Wände sind durchsichtig. Auf einer Couch sitzen meine Kinder und schauen auf einer Kinoleinwand einen Film. Jesus schwebt darin in Jeanshosen. Von Mike bekomme ich nur ein fragendes „What?“ zugerufen. Er kann mich nicht verstehen. Ich spreche auf Deutsch zu ihm. Sprachen lassen sich nicht mehr auseinanderhalten. Die Augen fallen mir wieder zu.
Am liebsten möchte ich mich einfach fallen lassen. So geht es nicht weiter. Unter einer weiten Tanne entdecke ich einen trockenen Fleck Erde. Vom Regen ist der Boden rechts und links des Trails nass durchtränkt. Hier aber, wie ein samtenes Bett weicher, trockener Waldboden. Mike gesteht mir eine drei (!) Minuten Schlafpause zu. Es ist die Aufgabe des Pacers, Entscheidungen abzunehmen, wenn der eigene Verstand nicht mehr funktioniert. Aber warum nur drei Minuten. Ich könnte hier gut und gern eine ganze Stunde schlafen!
Ich willige ein und schon liege ich mit Rucksack auf die Seite gerollt am Boden und falle in einen tiefen Schlaf. Von selbst erwache ich, noch bevor mich mein Pacer Partner mit Kiefernzapfen bewerfen muss. Für den kommenden Moment bin ich hellwach. Und kann plötzlich wieder richtig Gas geben. Was man nachts um 3.00 Uhr, nach 23 Stunden auf den Beinen so unter Gas geben versteht.
Dank Power Nap und Mike’s Hartnäckigkeit auch im weiteren Verlauf erreichen wir morgens nach fünf Uhr die Stadtgrenze von Leadville. Im Kopf ist Leadville das Ziel. Und doch sind es noch gute sechs Kilometer leichten Anstiegs, die uns von der Stadtmitte trennen. Die Sonne bahnt sich ihren Weg durch die Wolkendecke. Die Spitze des Mt. Elbert (4401 Meter) wird in der Ferne in orangefarbene Töne getaucht. Der Genussmodus ist zurück. Wir teilen ihn mit anderen Teilnehmern, die nun auch keinen Zweifel mehr am erfolgreichen Finish lassen. Ephorie macht sich breit.
Der breite Boulevard kann dem keinen Abbruch machen. Dieser leichte Anstieg wäre unter normalen Umständen in vollem Tempo rennbar. Nach über 150 Kilometern ist ein straffes Wandern völlig ausreichend. Das Körpergefühl ist zurück. An die vergangenen beiden Stunden habe ich kaum Erinnerungen. Umso wacher bin ich nun. Der Geist bereitet sich auf den magischen Moment vor. Über 27 Stunden sind vergangen. Und schon bald soll das alles vorbei sein? Melancholie und Glücksgefühle paaren sich auf der Teerstrasse in Richtung Harrison Ave. Immer mehr Zuschauer säumen den Strassenrand. Applaus. Great job. Well done. Awesome, amazing, great.
Beim Überschreiten der Ziellinie verdrücke ich mir ein paar Tränen. Ich musste tief graben, um die Ziellinie zu sehen. Habe nie daran gezweifelt. Und doch gibt es immer wieder diese grossen Unbekannten. Sich ihnen zu stellen und sie anzunehmen und für sich nutzen zu können, macht eine überlange Distanz aus. Merilee überreicht mir die Medaille und Ken die begehrte Gürtelschnalle. Symbole eines der härtesten Läufe, die ich absolviert habe. Die Bilder in meinem Kopf werden einen sehr speziellen Platz behalten.
Leadville 100 ist viel mehr als ein Laufevent. Es ist eine Reise. Eine lange. Durch die Berge Colorados und durch die Zeit. Es ist ein besonderer Lauf. Nicht die Distanz oder die Höhe machen schlussendlich den Unterschied. Es ist die Begeisterung, die Geschichte und der Spirit, die auf jedem Meter präsent sind. Es gibt Dinge, die kann man nicht mit Worten beschreiben. Der Lauf wirkt wie ein Rausch, ein neuzeitlicher Goldrausch. Ken’s Worte an der Startlinie werden mir in Erinnerung bleiben. Remember Leadville. Und ich will.
Lächelnd über die Ziellinie
Mein persönliches Fazit fällt positiv aus. Das Hauptziel, den Lauf innerhalb der geforderten 30 Stunden zu beenden, ist erreicht. Mit etwas mehr Laufkilometern im Training wäre es mir sicher einfacher gefallen. Den defekten Zeh habe ich während des Laufes nicht gespürt. Wegdenken funktioniert.
Leadville hat mich nicht gebrochen. Im Gegenteil. Das Feuer lodert. Ideen für neue Wettkämpfe wachsen heran. Neue Reisen. Um den Globus und in Körper und Psyche. Bleibt neugierig!