It’s not a race – and it’s not for the weak of will!
Das ist kein Wettlauf – und das ist nichts für Willensschwache!
Prolog
Es gibt Wettkämpfe, die nichts mit Siegen zu tun haben. Kein Podest wartet am Ende, keine Medaillen glänzen im Ziel, kein Jubel brandet auf – nur der schmale Grat zwischen Aufgeben und Weiterlaufen zählt. Der Barkley Marathon gehört dazu, ebenso der Yukon Arctic Ultra oder der Gobi 400. Und irgendwo hoch oben, verborgen im indischen Himalaya, zwischen Himmel und Erde, wartet eine Herausforderung, die selbst erfahrene Ultraläufer an ihre Grenzen führt: The Hell Ultra 480.
480 Kilometer auf dem Leh-Manali-Highway – eine Strecke, die weniger an einen Lauf erinnert als an eine spirituelle Prüfung. Dabei permanent auf über 4.000 Meter Höhe, dort, wo der Wind mit der Seele spricht und jeder Atemzug ein Kampf ist. Der Tanglang La Pass – 5.317 Meter über dem Meer – markiert den Punkt, an dem selbst Gedanken schwer werden. Der Name ist Programm: Hölle und Himmel liegen hier nur einen Schritt auseinander.

Kann man solch ein Ungeheuer bezwingen? Oder bezwingt es einen selbst? Ich weiss es nicht. Aber ich will es herausfinden. The Hell Ultra 480 stand auf meinem Wettkampfkalender 2025. Was ich dabei erlebt habe, davon erzählt dieser Bericht.
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«It’s not for the weak of will» ist das Motto des Veranstalters The Hell Race. Als ich das erste Mal vom Hell Ultra gehört habe, konnte ich mir eine Teilnahme nicht vorstellen. 480 Kilometer auf dem Leh-Manali-Highway einmal quer durch den indischen Himalaya innerhalb von 120 Stunden – die Zahlen alleine verursachten ein leichtes Schwindelgefühl. Das ist nun drei Jahre her. Und dieses mulmige Gefühl scheint nicht stark genug gewesen zu sein, sonst würde ich heute, am 23. Juni 2025 in der wuseligen Mall Road in Manali nicht hier am Start stehen.
Kurz vor Weihnachten im vergangenen Dezember habe ich eine WhatsApp an Vishwas, den Gründer und Boss des Hell Race Teams gesendet. Kurz und knapp «I am in» (ich bin dabei) stand darin. Die Antwort liess nicht lange auf sich warten: «3x Daumen hoch» war das Einzige, was er mir in diesem Moment antwortete. Mehr Kommunikation braucht es nicht, um diese Herausforderung in Sack und Tüten zu haben. Klar, in den folgenden Monaten gab es noch die ein oder andere Information zur Veranstaltung. Insgesamt wird mit Informationen allerdings sehr sparsam umgegangen. Wer also europäische «Verwöhn-Informations-Flut» in Form von monatlichen (oder gar wöchentlichen) Newslettern oder Webseiten erwartet, die bis ins kleinste Detail bereits vor dem Start alles preisgeben, bzw. einfordern, ist hier falsch. Eigene Kenntnisse über die Verhältnisse der Strecke, Akklimatisierung vor dem Lauf, Verpflegung unterwegs, Erfahrung im Umgang mit der Höhe oder vorherrschende klimatische Bedingungen sind von Vorteil, bzw. werden dringend benötigt, um den Wettlauf gegen viele Unbekannte überhaupt zu Ende bringen zu können.
Ich kann es hier bereits vorwegnehmen: ja, ich habe es geschafft. Als erst sechster Mann überhaupt, während acht Austragungen, konnte ich das Zielbanner an der Shanti Stupa in Leh in die Höhe strecken. Bislang hat sich noch keine Frau ins Finisherbuch eingetragen. Was macht diesen Lauf so speziell? Wie bereitet man sich auf solch eine extreme Herausforderung vor? Welche Erlebnisse erwarten die Teilnehmer unterwegs? War ich am Limit? Was ist mein Resümee? Und: würde ich es wieder tun? Das sind nur einige der Fragen, die ich versuche, mit diesem Erlebnisbericht zu beantworten. Es wird viel Lesestoff, soviel kann ich vorwegnehmen. Genau wie eine Distanz von 480 Kilometern zu Fuss fordernd ist, muss auch deren Aufarbeitung und Verarbeitung entsprechende Aufmerksamkeit gespendet werden. Das ist nicht mal eben so im Vorbeigehen getan. Seid also bereit für eine lange Reise auf einer der anspruchsvollsten und oft als eine der gefährlichsten Strassen der Welt bezeichneten, und gleichsam zwei vollkommen unterschiedliche Kulturkreise verbindende Route durch das höchste Gebirge unseres Planeten – Hell Ultra 480 – lasst uns in die Hölle eintreten!
Das Abenteuer beginnt acht Monate zuvor. Oder eigentlich zwei Jahre früher. Oder sollte diese Geschichte nicht schon vor zehn Jahren beginnen?
Aufarbeitung der Geschichte – der unbewusste Beginn einer Liebesgeschichte
Im Juni 2015 habe ich zum ersten Mal eine Verbindung zu dieser Strasse aufgenommen. Nicht bewusst – eher wie man jemanden trifft, der später noch einmal wichtig wird, ohne es gleich zu wissen. Damals sass ich auf einer alten Royal Enfield Bullet 500, dem indischen Motorradklassiker. Laut, schnell, frei. Ich war unterwegs von Leh nach Manali, nichts suchend, aber offen. Es war mein erster Besuch im ehemaligen Königreich im Norden Indiens. Mir war nicht bewusst, wie intensiv diese Reise mein künftiges Leben bestimmen wird.

Vereinzelt kamen mir Abenteurer auf dem Rad entgegen. Oft auf Weltreise, bereits mehrere Monate oder gar Jahre unterwegs. Die Gespräche mit diesen, das Leben bejahenden Nomaden erweiterten meinen Horizont. Und viel mehr noch sprang der Funke des Glühens in ihren Augen in die meinen über. Ich war angefixt und bereit, mich auf ebensolche Abenteuer einzulassen. Ich wollte diesen unverbrauchten Wind um die Nase spüren. Dieses Kitzeln beim Betreten von Pfaden, die nur wenige vorher gegangen sind. Die Befriedigung erfahren, die Bildung durch eigenes Erkunden erzeugt. Und irgendwo auf dieser Strecke und in meiner Gedankenwelt, zwischen den Bergen, der Weite und der Einsamkeit, hat sich ein Gedanke in mir festgesetzt: Wie wäre es, dieses schwarze Band durch die höchsten Gebirgszüge unseres Planten eines Tages aus eigener Muskelkraft zurückzulegen?
Damals träumte ich davon, sie mit dem Mountainbike zu fahren. Diesen Traum konnte ich mir bereits erfüllen. Ich bin die Strecke gefahren – habe mir jeden Höhenmeter, jede Kehre, jeden Windstoss erstrampelt und eingeprägt. Ich habe sie auch schon in einem dieser klapprigen Busse erlebt, die die beiden Städte miteinander verbinden. Aus dem Fenster blickend, zusammengekauert mit eingeschlafenen Beinen und vielleicht mit einer gewissen Wehmut, nicht selbst aktiv zu sein. Ich konnte sie auch im etwas bequemeren Auto erfahren und vor zwei Jahren bin ich beim High 5 im Rahmen des Hell Ultra während fünf Marathons an fünf Tagen einzelne Abschnitte gerannt. Diese Route, wichtig als eine der zwei Verbindungsstrassen nach Ladakh, in den Regenschatten des Himalaya, den Witterungsbedingungen geschuldet nur für mehrere Monate im Jahr geöffnet, wurde mehr als nur eine heimliche Affäre. Ich habe auf ihr gelitten, gestaunt, gefroren, geschwitzt. Diese Transitroute ist mir vertraut geworden – aus vielen Perspektiven, mit wechselnden Geschwindigkeiten und Begleitern. Aber da war immer noch etwas offen. Etwas, das nicht mit Rädern oder Motoren zu fassen ist. Etwas, das nur die Füsse verstehen.
Es ist an der Zeit, meine persönliche Geschichte hier zu vollenden. Dieser Strasse, dieser sanften Bestie auf Augenhöhe zu begegnen – Schritt für Schritt, Atemzug für Atemzug. 480 Kilometer. Kein Fahrzeug. Keine Abkürzung. Nur mein Körper, mein Geist, mein Wille. Der Leh-Manali-Highway, der Himmel, die Berge – und dazwischen ich.
Der Hell Ultra 480 führt mich über keine neue Route. Aber es ist ein neues Kapitel. Vielleicht sogar die ehrlichste Form, dieser Strasse zu begegnen. Und mir selbst.
Vorbereitung – das Rauschen im Kopf
Schon Monate vorher war klar: Dieses Rennen wird anders. 480 Kilometer durch den Himalaya – viel Unberechenbares, was normale Menschen als Extreme bezeichnen würden. Eine detaillierte Auseinandersetzung mit dem Projekt ist zwingend notwendig. Eigentlich bin ich nicht so der Detailverliebte, der Planer bis ins Kleinste. Dieses Mal sollte das über Erfolg oder Misserfolg entscheiden. Der Komplexität gilt besonderes Augenmerk, das war mir von der ersten Sekunde an bewusst, sobald sich die Idee im Hirn festbrannte.
Der Hell Ultra 480 ist mehr als nur ein Ultralauf – er ist eine aussergewöhnliche Grenzerfahrung. Ich konnte mir bisher solch eine Streckenlänge in Kombination mit Höhe und dem Zeitfenster von 120 Stunden nicht vorstellen. Jetzt wird es Zeit, sich mit allem Benötigten auseinanderzusetzen. Wer hier antritt, braucht mehr als nur körperliche Fitness oder mentale Stärke. Ohne eine detaillierte Vorbereitung kann die Herausforderung schnell zur Aufgabe führen.
Trainingspläne müssen langfristig und zielgerichtet aufgebaut werden, angepasst an das Höhenprofil, die Dauerbelastung und die Bedingungen auf der befahrenen Strasse. Ebenso entscheidend ist die logistische Planung: Ernährung, Schlafstrategie, Ausrüstung, Notfallprotokolle – jeder Aspekt muss im Voraus durchdacht und getestet sein. Im Hell Ultra zählt jeder Fehler doppelt – und jede gute Entscheidung rettet Energie, Zeit und manchmal sogar Gesundheit. Für jeden, der diesen Lauf ernst nimmt, beginnt die eigentliche Leistung nicht auf der Strecke, sondern in den Monaten davor – mit Disziplin, Planung und tiefem Respekt vor dem, was kommt.
Im November des Vorjahres beginnt der physische Aufbau im Fitnessstudio. Körperstrukturen sollen für überlange Distanzen aufgebaut werden. Der Fokus lag dabei bei Weitem nicht nur auf den unteren Extremitäten. Dem Rumpf als zentrale Mitte galt die meiste Aufmerksamkeit. Und auch Schultergürtel, Brust und Arme müssen ausgebildet werden. Kurzum: wer beim Laufen nur an die Beine denkt, liegt falsch. Unser Körper ist ein komplexes Gebilde und erst das Zusammenspiel aller Strukturen ergibt ein einheitliches Ganzes.
Eine detaillierte Auflistung aller Trainingseinheiten oder -methoden würde hier zu weit führen. Für die Ausarbeitung solcher Strategien gibt es Spezialisten, wie die erfahrenen Sportwissenschaftler der KS-Sportsworld. Sie beschäftigen sich tagtäglich mit Menschen, die ihre Leistung in einem bestimmten Feld verbessern wollen. Und geben ihr umfangreiches Knowhow in den ACTREME Camps weiter. Ich vertraue auch gerne auf diese Experten. Aus meinem Pensum die acht Monate vor dem Start des Hell Ultra nur so viel: Zur Vorbereitung gehörte weit mehr als nur das fast tägliche Training im Gym. Neben den regelmässigen Einheiten mit Gewichten und Intervallen standen auch lange Ausfahrten auf dem Rad, ruhige Bahnen im Schwimmbecken und intensive Yoga-Sessions auf dem Plan. Körperliche Stärke allein reicht nicht für einen Lauf wie den Hell Ultra – es braucht ebenso Beweglichkeit, Stabilität und eine tiefe Verbindung zum eigenen Inneren. Meditation half, den Geist zu fokussieren, wenn die Gedanken flüchtig wurden, und gezielte Entspannungsmassnahmen sorgten dafür, dass Regeneration nicht nur ein Wort blieb, sondern gelebte Praxis war.
Nach dem Kraft- und Stabilitätstraining für den gesamten Körper folgten die Laufeinheiten – so vielfältig wie das Leben selbst. Was habe ich speziell im Hinblick auf den Hell Ultra trainiert? Lange, lockere Dauerläufe gehörten natürlich in die Vorbereitung – fast selbstverständlich. Aber etwas kam hinzu: Der Leh-Manali-Highway ist eine von Lastkraftwagen, Autos und Motorrädern stark frequentierte Strasse. Um mich darauf vorzubereiten, habe ich unzählige Kilometer entlang belebter Strassenränder und auf Parallelwegen neben der Autobahn verbracht. Das stumpft ab – und schärft zugleich die Resilienz gegenüber Lärm, Hektik und Abgasen.
Die Emissionswerte indischer Tata Motors, Ashok Leyland und Eicher Trucks lassen sich zum Glück unter hiesigen Bedingungen nicht simulieren. Im Himalaya dann muss sich die Lunge – zusätzlich zum geringen Sauerstoffpartialdruck – erst einmal auf diese ganz besonderen Reize einstellen.
Die Vorbereitung war kein starrer Plan, sondern ein fein austariertes Gleichgewicht – zwischen Spannung und Loslassen, zwischen Disziplin und Achtsamkeit.
Achtsamkeit ist für mich nicht nur ein Schlagwort und schon gar kein Tool zur Leistungsverbesserung. Es ist vielmehr eine Einstellung zum Leben. Achtsamkeit basiert auf Werten, Überzeugungen und der Freiheit, nicht zu müssen – nicht zu fliehen, nicht zu kämpfen, nur zu sein. Die Verbindung von Mindfulness im Sport hat mir geholfen, Körpergefühl und Körperwahrnehmung zu entwickeln und zu verbessern. Das kann zu Reduzierung von Verletzungsanfälligkeit, Steigerung der Bewegungseffizienz, verbesserter Leistungsfähigkeit und gesteigertem Wohlbefinden führen. In dem Moment, indem du achtsam in deinen Handlungen bist, ist der Fokus auf dem Moment. Ich konzentriere mich dann nur auf das, was gerade ansteht: den nächsten Schritt, die Atmung, das Gelände. Vergangene Misserfolge oder zukünftige Erwartungen spielen keine Rolle. Das ermöglicht mir, jede Handlung bewusst auszuführen und wirklich mit meinem Lauf zu verschmelzen. Im Buch Mindfulness für Läufer gibt es zum Thema Achtsamkeit hilfreiche Übungen, die ich gerne in Training und Wettkampf anwende.
Laufen ist für mich auch eine Form der Selbstbegegnung. Wenn du stundenlang unterwegs bist – mit dir, deinem Atem, deinem inneren Dialog – lernst du dich zwangsläufig besser kennen. Und genau da spielt Achtsamkeit eine grosse Rolle: Sie hilft mir, hinzuhören, ehrlich zu sein mit dem, was in mir passiert. Ich nutze immer gerne die Floskel: Wenn DU dich nicht kennst – wer soll dich sonst kennen? Nur wer sich selbst versteht, kann auch mit Stress, Krisen oder Zweifeln konstruktiv umgehen – im Lauf wie im Leben. Der achtsame Umgang in Vorbereitung zum Hell Ultra und natürlich auch während des Laufes hat massgeblich zum Erfolg beigetragen.
Mit jedem durchdachten und abgearbeiteten Puzzleteil in der Vorbereitung auf das Projekt Hell Ultra reduziert sich das anfänglich laute Brummen im Kopf zu einem leisen, kontrollierten Summen – spürbar an der Startlinie in Manali. Dieses feine Grundrauschen bleibt. Und es muss bleiben. Denn würde es ganz verstummen, käme das dem Tod nahe – nicht im physischen Sinn, sondern im Verlust jener inneren Spannung, die jedes echte Abenteuer braucht. Alles im Voraus wissen, jedes Detail kontrollieren zu wollen, mag Sicherheit geben, raubt dem Ganzen aber seine Lebendigkeit. Das Unbekannte ist kein Fehler im System – es ist sein Herzschlag.
Ausrüstung oder die Kunst des Weglassens
Die Pflicht-Equipment-Liste ist im Vergleich zu anderen, kürzeren Wettkämpfen überschaubar. Überhaupt ist beim Hell Ultra vieles auf Eigenverantwortung aufgebaut. Wer hier startet, hat sich mit den benötigten Dokumenten oder Ausrüstungsgegenständen auseinanderzusetzen, es wird nichts auf dem Silbertablett serviert. Erfahrung ist notwendig. Der Veranstalter verlangt weder ein medizinisches Zertifikat noch eine Rücktransport-Versicherung. Das gehört natürlich zu einer Reise in diese abgelegenen Gegenden im Himalaya dazu, ist aber für einige Reisende nicht selbstverständlich.

Beim Hell Ultra 480 steht jedem Teilnehmer ein Begleitfahrzeug inklusive Fahrer sowie eine zusätzliche Begleitperson zur Verfügung – dieses Package wird vom Veranstalter gestellt und ist in der Anmeldegebühr enthalten. Das Support-Team begleitet die Läufer rund um die Uhr und dient nicht nur der logistischen Unterstützung, sondern auch der Sicherheit. Wer möchte, kann auf eigene Kosten eine vertraute Person mitbringen, die sich während des Rennens um Betreuung, Ernährung und mentale Unterstützung kümmert.
Da das Rennen unter extremen Bedingungen stattfindet – grosse Höhen, wechselhaftes Wetter, tagelange Dauerbelastung – ist eine durchdachte Ausrüstung entscheidend. Das Prinzip lautet: so leicht wie möglich, so funktional wie nötig. Das Begleitfahrzeug ist während des Laufs stets in der Nähe, deshalb muss nicht alles am Körper getragen werden – aber: Was du unterwegs brauchst, muss schnell erreichbar und klar organisiert sein. Gute Vorbereitung spart hier nicht nur Zeit, sondern auch Nerven.
Die Kunst liegt darin, mit dem richtigen Mass zu packen: Überflüssiges wird schnell zur Belastung, aber ein fehlendes Teil kann im entscheidenden Moment zum Problem werden. Wer seine Ausrüstung im Vorfeld testet, sortiert und optimiert, läuft sicherer – und gelassener in der Hölle von Manali bis Leh.
Meine persönliche, individuelle Ausrüstungsliste ist HIER einsehbar. Individuell wie jeder von uns. Für mich gilt: nur was ich selbst im Training und anderen Wettkämpfen teste, kommt auch mit zum Hauptwettkampf. Ein „könnte gehen“ bleibt zu Hause.
Beim Hell Ultra 480 – und eigentlich bei jedem Ultralauf – liegt das Hauptaugenmerk auf zwei Dingen: den Schuhen und der Ernährung. Wer hier Fehler macht, zahlt im Laufe des Rennens einen hohen Preis. Die Füsse sind die Grundlage jeder Bewegung, doch unter tagelanger Dauerbelastung verändern sie sich deutlich: Sie schwellen an, werden empfindlich, reagieren auf Druck, Reibung, Hitze oder Kälte. Aus diesem Grund laufe ich beim Hell Ultra nur in Schuhen, denen ich zu 150% vertrauen kann. Auf dem Leh-Manali-Highway kamen zwei Modelle der gleichen Marke zum Einsatz.
Ein bewährter Bestandteil meiner Ausrüstung ist ausserdem Gehwol Fusskrem – die mit „k“. Klingt unspektakulär, ist aber seit Jahren mein treuer Begleiter und unerreicht im Schutz der Füsse, egal ob bei Nässe, Trockenheit, Hitze oder Kälte. Gerade auf langen Etappen, wenn sich Mikrobewegungen millionenfach wiederholen und kleinste Reibung zu offenen Stellen führen kann, wirkt der richtige Schutz entscheidend. Die Fusskrem schützt, beruhigt und verhindert zuverlässig Hautirritationen – sie ist mein stiller, aber unverzichtbarer Helfer in jedem Rennen.
Ebenso wichtig wie die Füsse: die individuell abgestimmte Ernährung. Auf dieser überlangen Belastungsdauer reicht es nicht einfach „irgendwas“ zu essen – der Körper verlangt nach Energie, die er kennt und verwerten kann, nach Flüssigkeit und vor allem nach regelmässiger Versorgung. Beim Hell Ultra habe ich auf eine fixe Anzahl Kohlenhydrate pro Stunde in flüssiger Form gesetzt. Flüssig, da weniger Belastung für Magen und Verdauungssystem. Zusätzlich soll dann in den Dhaba’s (die kleinen Restaurants am Strassenrand) durch leichte Kost wie Suppen oder Omeletts Abwechslung in den Ernährungsplan gebracht werden. Neben Gels oder Carbopulver brauche ich diesen frischen Wind für die Geschmacksknospen von Zeit zu Zeit. Auch Genuss darf trotz aller Anstrengung nicht zu kurz kommen.
Als Backup hatte ich gefriergetrocknete Mahlzeiten, Couscous und Kartoffelbrei dabei. Benötigt habe ich davon nichts. Die Flüssigkomponente in Verbindung mit den ergänzenden Suppen war vollkommen ausreichend als Energiespender. Bei der Beratung zum Ernährungskonzept für diesen Lauf stand mir der dipl. Sportwissenschaftler Dr. Konrad Smolinski von KS-Sportsworld hilfreich zur Seite.
Im Zusammenspiel aus Schuhwerk, Pflege und gezielter Ernährung entsteht die Basis für das, was am Ende zählt: weiterlaufen zu können, wenn der Körper eigentlich längst stehen will.
Wenn Vorbereitung auf Realität trifft- Zwischenschritte auf dem Weg in die Hölle
Zwei Wettkämpfe standen in der Vorbereitung besonders im Fokus: Im Januar lief ich 100 Kilometer beim Ultra Trail Angkor in Kambodscha – ein Lauf durch tropische Hitze, rohen Staub und endlose Tempelpfade. Anfang Mai folgten 180 Kilometer beim Cami de Cavalls auf Menorca, entlang schroffer Küsten und technischer Trails. Beide Rennen waren nicht nur körperliche Härtetests, sondern vor allem wertvolle Gelegenheiten, meine Strategie in Bezug auf Verpflegung, die körperlichen Strukturen und meine mentale Stabilität unter realen Bedingungen zu überprüfen. Es waren beides keine perfekten Rennen. Kleine Fehler kamen zutage, hilfreiche Routinen wurden erkennbar – Erkenntnisse, die im Hell Ultra den entscheidenden Unterschied machen können.
Manali – the point of no return
Endlich wird aus Vorbereitung Realität, aus Vorstellung wird Weg. Der erste Schritt trägt mehr als nur den Körper – er trägt die Entscheidung. Nach Monaten der Planung, Visualisierung und unzähligen Stunden körperlichen wie mentalen Trainings beginnt nun unwiderruflich die Reise.
Ein warmer Montagabend im Juni, 22.00 Uhr. Leichter Nieselregen benetzt das Kopfsteinpflaster. Zarte Tropfen fallen aus der dunklen Nacht, leise – als wollten sie sich für ihre Ankunft entschuldigen. Als wüssten sie, dass dieser Moment nicht ihnen gehört.
Drei Starter stehen in der pulsierenden Mall Road von Manali, im flackernden Licht der Neonreklamen – beobachtet von Atal Bihari Vajpayee, dem ehemaligen Premierminister Indiens, der uns von seinem Denkmal aus mit steinerner Miene entgegenschaut.
Neben mir steht Ajay, ein indischer Laufkollege, der sich ebenfalls den 480 Kilometern stellt. Er hat es im vergangenen Jahr bereits versucht und wurde vom Veranstalter aufgrund der Cut-Off-Zeiten etwa 50 Kilometer vor dem Ziel aus der Wertung genommen. Und Véro, französische Ultraläuferin, die beim HELL-00-135 die halbe Distanz unter die Laufsohlen nimmt – ein kleines Trüppchen, mit nicht minderer Entschlossenheit.
Bereits am Vortag haben die 80-Kilometer-Starter ihren Wettkampf bestritten. Jetzt ist unsere Zeit gekommen.
Race Direktor Vishwas waltet seines Amtes und entlässt uns nach einem kurzen Countdown in die Nacht. Das wuselnde Treiben in Manali liegt schnell hinter uns. Mit leichten, erwartungsvollen Schritten steigen wir stetig bergan – hinaus aus dem Kullu-Tal, hinein in das Ungewisse.
Noch herrscht Hektik: Wir laufen durch urbane Gefilde, begleitet von hupenden Autos, röhrenden Motorrädern, streunenden Hunden und Menschen, die wie Schatten am Strassenrand stehen. Alles will wahrgenommen werden, jeder Schritt muss wachsam gesetzt sein. Noch ist es kein meditativer Lauf – es ist ein vorsichtiger Tanz durch die Restgeräusche der Zivilisation.
Warum stellen sich nur wenige dieser Herausforderung? Vielleicht, weil die schiere Komplexität dieser Aufgabe für viele jenseits des Vorstellbaren liegt. 480 Kilometer zu Fuss, über Tage hinweg, in diesen schwindelerregenden Höhen, bei unberechenbarem Wetter, mit zunehmender Erschöpfung – das sprengt die inneren Landkarten. Es geht hier nicht nur um körperliche Leistung. Es geht um Planung, Strategie, mentale Stabilität, und den Mut, sich mit sich selbst auf brutal ehrliche Weise auseinanderzusetzen. Und das ist etwas, das sich schwer in Worte fassen – und noch schwerer trainieren lässt. Du musst dich auf etwas einlassen, dessen Ausgang du nicht kennst, was du nur bedingt ausschliesslich aus innerer Kraft zu Ende bringen kannst.
Nach etwa zehn Kilometern – die Zeit fliegt nur so vorbei – erreichen wir den Abzweig zum Rohtang-Pass. Links rauschen die Fahrzeuge weiter Richtung Tunnel, der die alte Passstrasse für den Verkehr fast überflüssig gemacht hat. Rechts tauchen wir ab in die Dunkelheit. Nur im Kegel der Stirnlampe, begleitet von ein paar verstreuten Regentropfen, geht es Schritt für Schritt weiter – hinein in die Nacht, Richtung Mitternacht.
Ich mag diese Läufe im Dunkeln. Keine Ablenkung, kaum Geräusche. Nur der eigene Atem und die gleichmässigen Schritte im warmen Licht der Stirnlampe. Alles wird einfach. Alles wird still. Ein meditativer Zustand in Bewegung – wach, reduziert, ganz bei sich. Erst wer Nächte wie diese im Dunkeln verbracht hat, weiss das aufkommende Tageslicht wirklich zu schätzen.
Ich bin bei mir. Und nur bei mir. Die Fragen der Veranstalter am Strassenrand – wie es mir geht, ob ich etwas brauche – wirken in diesen ersten Kilometern fast schon störend. Noch brauche ich nichts. Noch will ich nichts. Ich will mich einlassen. Auf die Aufgabe. Auf den Leh-Manali-Highway.
Ich will eintauchen – nicht in Zahlen, Zeiten oder Sorgen, sondern in mein tiefstes Inneres. Und das gelingt nur, wenn ich ungestört meinen Rhythmus finde. Ohne Ablenkung. Ohne Irritation. Nur ich. Der Weg. Der nächste Schritt.
Rao, meinem persönlichen Begleiter bin ich vor zwei Tagen kurz vor dem Race-Briefing das erste Mal begegnet. Indischer Top Trail Läufer, dessen Palmares u.a. erfolgreiche Teilnahmen bei renommierten Events wie den UTMB in Chamonix oder dem Tor de Geants aufweist. Er hat sich bereits zweimal an den Hell Ultra gewagt und konnte diesen im zweiten Anlauf auch erfolgreich ins Ziel bringen. Ein Mann mit unglaublicher Erfahrung im Ultralauf. Genau wie ich auch. Da kommt einiges an Wettkampfkilometern bei uns beiden zusammen. Und einiges an Erfahrung. Und Ideen, wie man solch einen Monsterlauf erfolgreich absolviert. Ich habe meine Vorstellungen, er seine. Wenn diese Welten aufeinanderprallen, muss es nicht zwingend harmonisch zugehen. Wichtig ist es, objektiv zu bleiben und zielstrebig vorzugehen.
Morgenstimmung am Rohtang Pass
Den leichten Nieselregen und die tiefhängenden Wolken haben wir im Tal zurückgelassen. Beim Blick zurück türmen sich dunkle Wolkenmassen, in der Ferne zucken Blitze. Über uns: ein tiefer, klarer Nachthimmel, durchsetzt mit ein paar scheu leuchtenden Sternen.
Die Baumgrenze liegt schnell hinter uns. Schon bald tauchen die ersten Lichter von Marhi auf – eine kleine Ansiedlung mit einfachen Restaurants und Übernachtungsmöglichkeiten. Nicht mehr als ein Rastplatz auf dem Weg zum Rohtang Pass. An Schlaf denke ich nicht. Ein kurzer Stopp für einen Tee liegt drin. Beim Verlassen des Postens kommt auch Véro an. Von Ajay keine Spur. Wir sind auf demselben Weg – und doch jeder in seiner eigenen Bubble.
Das Laufen ist inzwischen einem straffen Gehen gewichen. Noch wirken die Höhenmeter nicht furchteinflössend. Der Rohtang Pass liegt bei knapp 4.000 Metern – ein guter Abschnitt zum Einrollen für das, was noch kommt: die höheren, raueren Herausforderungen, weiter nördlich im Himalaya.
Wie akklimatisiert man sich für diese Dimensionen? In den vergangenen zehn Jahren konnte ich bei unzähligen Aufenthalten im nepalesischen und indischen Himalaya ein Programm entwickeln, dass es mir erlaubt, mich nach zehn, zwölf Tagen einigermassen ordentlich ohne grössere Einschränkungen bewegen zu können. Für eine vollständige Akklimatisierung bedarf es vier bis sechs Wochen mit stetiger Steigerung der Schlafhöhe. Das Zeitfenster haben die meisten nicht zur Verfügung. Bergsteiger nutzen Höhenzelte für die Anpassung. Während vier Wochen wird die Schlafhöhe durch Anpassung des Sauerstoffpartialdrucks sukzessive gesteigert, was einer Simulation der reellen Höhen nahekommt. Das wäre sicher eine Möglichkeit, sich auf einen Lauf wie den Hell Ultra vorzubereiten. Von ein paar Einheiten in einer Höhentrainingskammer rate ich ab, da der Anpassungseffekt nur gering ist. Für mich persönlich kommt beides nicht in Frage, da ich meinen Herausforderungen so natürlich wie möglich ins Auge blicken möchte.
Die frischen Strahlen des Tages streichen über die karge Landschaft. In früheren Jahren türmten sich hier oben noch Schneereste – in diesem Jahr: keine Spur davon. Der Klimawandel schreitet sichtbar voran. Der Rohtang Pass ist ein beliebter Ausflugspunkt für die Tausenden indischen Urlauber, die jedes Jahr Manali und das Solang Valley heimsuchen. Für den ersten Kontakt mit der weissen Pracht und das obligatorische Erinnerungsfoto müssen sie heute höher hinaus. Der Schnee ist weitergezogen. Was einst sicher schien, verändert sich. Schritt für Schritt.
Der erste von fünf gewaltigen Pässen liegt hinter mir – und mit ihm die ersten fünfzig Kilometer im Anstieg. Zufrieden gleite ich in den neuen Tag. Die Sonne berührt die gegenüberliegenden Gipfel, als wolle sie mir ein Zeichen senden: „Weiter und höher – du bist auf gutem Weg. Dranbleiben!“ Für einen Moment gehe ich in mich, spüre nach, mache einen kleinen Bodyscan. Und ja – es ist okay. Alles ist im Fluss. Es ist Sonnenzeit. Unbeschwert und frei.
Und der Mensch heisst Mensch, weil er vergisst, weil er verdrängt.
Und weil er schwärmt und stillt, weil er wärmt, wenn er erzählt.
Diese Zeilen aus Grönemeyers „Mensch“ fliegen mir durch den Kopf. Ich fühle mich gut. Bereit.
Wie aus dem Nichts taucht ein streunender Köter auf. Wir verfallen in einen schweigenden Dialog. Worte werden nicht benötigt. In wildem Zickzack führt der Weg hinab ins tief eingeschnittene Lahaul-Tal. Das nächste Dorf, Koksar, ist schon von weitem sichtbar. Mit den ersten Sonnenstrahlen nimmt auch der Verkehr spürbar zu. Rao und Kaku, mein Fahrer, warten dort bereits mit heissem Tee und zubereiteten Instantnudeln. Seit zehn Stunden bin ich nun auf der Straße Richtung Norden unterwegs. Zeit für eine Pause – verdient.
Die Heckklappe des geräumigen Toyota steht offen, der Kofferraum wirkt wie eine improvisierte Lounge, die geradezu dazu einlädt, den Beinen einen Moment Ruhe zu gönnen. Siebzig Kilometer haben sie bislang unermüdlich Schritt für Schritt geleistet. Und das ist erst der Anfang. Die Hölle hat ihr Feuer noch nicht entfacht.
Mein treuer Begleiter, der Hund, wird eher unsanft empfangen. Eine Meute lokaler Hunde stürzt sich mit lautem Gebell auf ihn, als wolle sie ihm klarmachen: Du gehörst nicht hierher. Seine Ankunft scheint unerwünscht – und so bleibt ihm nichts anderes, als den Rückweg anzutreten. Als Zeichen des Abschieds tauschen wir einen flüchtigen Blick. Kein Wort, kein Bedauern – nur ein kurzes Verstehen. Es ist, wie so oft im Leben: Bevor etwas Grösseres entstehen kann, ist es manchmal auch schon wieder vorbei. Manche Begegnungen berühren – gerade, weil sie nicht bleiben.
Mit den folgenden Kilometern begann Langeweile aufzukommen. Die Strasse schlängelt sich in leichtem Auf und Ab fast eintönig dahin. Es fehlen echte Herausforderungen. Es zeigt sich wieder einmal: Es sind nicht die einfachen Dinge im Leben, die uns mit Leidenschaft erfüllen. Wir suchen das Herausfordernde – das, was uns fordert, formt und manchmal auch über uns hinauswachsen lässt. Denn genau dort, in der Reibung, im Ringen, beginnen wir zu leuchten. Auf diesem Abschnitt des Laufes vermisse ich genau dieses Fordernde und meine Leidenschaft sinkt.
Genau wie ich: In Sissu falle ich erschöpft auf ein hölzernes Sitzmöbel in der Lobby eines kleinen Hotels im Ortszentrum. Noch nicht einmal hundert Kilometer liegen hinter mir – und ich stecke in meiner ersten Minikrise. Oder nennen wir es, was es war: Müdigkeit. Ein Powernap und ein kräftiger Ginger-Lemon-Honey-Tee werden mich schon wieder auf Kurs bringen. Die Hitze schlägt in den späten Morgenstunden bereits gnadenlos zu – ein bloßer Vorgeschmack auf das, was mich im weiteren Verlauf dieser (Tor)Tour noch erwartet.
Ich stoppe meine Uhr nicht während der Pausen. Sie läuft weiter – wie das Leben.
Wir können das Unangenehme nicht einfach herausfiltern aus dem Gesamtprozess unseres Daseins. Wir müssen es annehmen. Leiden gehört dazu, genauso wie Freude, Leichtigkeit und Euphorie. Erst im Zusammenspiel entsteht das, was wir innere Zufriedenheit nennen. Nicht trotz, sondern wegen allem.
Auf geht’s weiter. Immer weiter!
Es fällt mir nicht leicht, in meinen Rhythmus zurückzufinden. Immer wieder überholen mich Fahrzeuge des Veranstalters – besetzt mit der Media-Crew, Helfern, anderen Läufern auf dem Weg nach Keylong, dem nächsten Dorf am Highway. Die Teilnehmer des „High 5“, einem weiteren Event im Rahmen des Great Himalayan Running Festivals, haben ihren ersten von fünf Marathons absolviert und werden ins Nachtlager nach Jispa gebracht. Aus den Begleitfahrzeugen wird gejubelt und angefeuert. Das soll motivieren – nur leider nicht mich.
Véro fliegt an mir vorbei, eine längere Bergabpassage nutzt sie mit Leichtigkeit. Sie lächelt, ihr geht es gut. Ich dagegen vermisse meine Bubble – diese konzentrierte Ruhe, die mir sonst so viel Kraft gibt.
Kurz vor der Tandi-Brücke ist es wuselig. Hier, wo der Bagha in den Chanab-Fluss mündet und die Strasse sich teilt: links Richtung Udaipur, rechts nach Leh. Ich halte mich nach der Brücke rechts. Die Beschilderung zeigt das Ziel bereits an – Leh. Doch die Kilometerangabe interessiert mich noch nicht.
Apropos Kilometer: fast unbeachtet habe ich die 100 Kilometer Marke überschritten.
Umgang mit Hitze und andere Unvorhersehbarkeiten
In Keylong folgt die nächste Pause. Es ist Nachmittag, die Sonne steht im Zenit. Salzränder auf dem T-Shirt sprechen ihre eigene Sprache – die Hitze fordert ihren Tribut. Erst einmal: Beine hoch, in einem dieser kleinen, lokalen Restaurants. Noch immer herrscht Trubel um mich herum. Und dann taucht auch Véro auf. Ihr Lächeln ist verschwunden. Auch sie spürt die zunehmende Last des Tages – die Hitze macht ihr sichtbar zu schaffen.

Tee geht immer. Und eine Nudelsuppe. Mehr will nicht hinein. Flüssige Energie ist ohnehin mein Hauptanker. Ich versorge mich über zwei 500-Milliliter-Flaschen: eine mit Gel angereichert, die andere mit Carbopulver. Zusammen liefern sie knapp 140 Gramm Kohlenhydrate – mein Ziel ist es, diese Menge alle zwei Stunden zu trinken.
Rao kümmert sich ums Nachfüllen. Und er achtet darauf, dass ich tatsächlich regelmässig trinke – nötigenfalls erinnert er mich daran. Das klappt bisher gut. Selbst bei grosser Hitze, wenn der Appetit schwindet, verlangt der Körper nach Flüssigkeit – und bekommt dabei automatisch die nötige Nahrung. Ich stelle mir keinen Timer. Aber ich versuche, etwa alle zwanzig Minuten abwechselnd einen Schluck aus den beiden Flaschen zu nehmen.
Noch bewegen wir uns durch fruchtbare Landschaften. Terrassenfelder ziehen sich die steilen Hänge hinauf, weit über die Straße hinaus. Die Berge werden mächtiger, präsenter – aber sie bleiben sanft, noch.
Es sind nur wenige Kilometer bis Jispa. Vielleicht zwanzig. Ich schaue nicht oft auf die Uhr. Die Strecke diktiert das Tempo, nicht die Zahlen. Verlaufen kann man sich hier ohnehin nicht. Der Leh–Manali–Highway kennt kaum Abzweigungen. Wohin auch?
In einem Hotel in Jispa ist die Crew des High 5 untergebracht, ebenso wie die Veranstalter. Sie empfangen mich mit verhaltenem Jubel. Es ist schon dämmrig – das Licht verliert an Schärfe, der Tag zieht sich zurück. Ich sehne mich nach Schlaf. Aber dafür ist es noch zu früh. Mein Tagesziel ist noch nicht erreicht.
Ich gönne mir eine Dusche. Dann versuche ich, etwas Richtiges zu essen. Dhal Bhat – Linsen und Reis. Eigentlich eines meiner Lieblingsgerichte, wenn ich im Himalaya unterwegs bin. Heute aber will es nicht hinunter. Der Körper sendet klare Signale: Bleib bei deinem Flüssigzeug. Keine Experimente.
Nach Jispa verändert sich die Strecke spürbar. Die Entfernungen zwischen den Dörfern werden grösser, Begegnungen seltener, Selbstgespräche nehmen zu. Die Strasse schlängelt sich weiter nordwärts, stetig ansteigend, hinein in eine Landschaft, die zunehmend karger und schroffer wird. Die hohen Berge rücken näher, werden zum ständigen Begleiter – und irgendwann zum Gegenüber, das einen prüfend mustert.
Der Verkehr nimmt ab. Die Fahrzeuge, die jetzt noch unterwegs sind, sind vor allem schwer beladen: Trucks, Jeeps, Motorräder mit knatterndem Motorengeräusch. Ihre Präsenz ist wie ein Echo aus einer anderen Welt – laut, kurz, dann wieder Stille. Mit jedem Kilometer wird die Strecke einsamer. Und genau darin liegt ihre Kraft. Die Weite, die Leere, das Reduzierte – es zwingt zur Präsenz. Es lässt nichts zu, was nicht echt ist.
Ist es schon vorbei, bevor es richtig beginnt?
Nur ein kurzer Weg ist es bis Darcha, einem militärischen Checkposten – und zugleich dem Eingang zur Strasse ins entlegene Zanskar-Tal. Zanskar – immer noch ein Traum auf meiner Liste der Orte, die ich eines Tages besuchen will. Heute allerdings denke ich nicht daran. Denn seit Jispa bin ich wieder in meiner Blase. Zurück in jener inneren Ruhe, die ich auf diesen überlangen Distanzen so schätze.
Doch der Frieden hält nicht lange. Rao erwartet mich am Checkposten – mit einem nervösen Zucken im Auge. Das verheisst nichts Gutes. Braucht er Schlaf? Oder ist etwas passiert?
Mit aufgeregter Stimme berichtet er: Der Checkposten lässt uns nicht weiter. Weiter oben habe es eine Sturzflut gegeben. Die Strasse sei unpassierbar, das Militär blockiere den Zugang. Nur wer bereits oben ist, könne passieren. Neue Fahrzeuge? Keine Chance. Die wenigen Dhabas seien jetzt schon überfüllt.
In meinem Kopf rasen die Gedanken: War’s das? Alles vorbei, bevor es richtig begonnen hat? Soll ich allein weiter? Zu Fuss müsste es doch gehen. Oder… ein paar Rupien an den Offizier im Gegengeschäft für ein zugedrücktes Auge?
Noch ehe ich weiterdenken kann, steht Vishwas neben mir. Ruhig. Klar. „Keine Bange“, sagt er. „Wir finden eine Lösung.“ Er hatte bereits per Telefon von Rao erfahren, was passiert ist.
Hier, am Fusse des Passes Baralacha La, funktioniert das lokale indische Netz noch – zumindest gelegentlich. Aber bald, mit dem Überqueren des Passes, endet jede Verbindung zur Welt. Kein Internet. Kein Telefon. Keine KI. Keine Karte. Nur du, dein Team, dein Körper. Und Entscheidungen, die du ganz allein treffen musst. Willkommen im richtigen Leben.
Nach vielleicht zehn, fünfzehn Minuten öffnet sich der Schlagbaum. Vishwas hat alle Register gezogen und den Beamten von der Dringlichkeit unserer Mission überzeugt. Zum Verarbeiten dieser kurzen Störung im Ablauf möchte ich alleine sein und sende Kaku und Rao weitere fünf Kilometer die Strasse hinauf.
Der Abschnitt ist steil ansteigend. Ich setze, unterstützt durch die Traillauf-Stöcke langsam einen Schritt vor den anderen. Knapp 24 Stunden bin ich unterwegs. Und unbemerkt schleicht sich eine Müdigkeit ein, die die Gedanken an Sturzflut, den weiteren Streckenverlauf, Ernährung und überhaupt alles, ablöst. Die Schritte werden schwerer, bleiern. Die Augen fallen immer wieder zu. Immer noch in Bewegung, aber eher in Trance. Es fühlt sich an wie Schweben, ist in echt aber ein Taumeln. Die Stöcke stützen mich, ab und zu mal ein Ausweichschritt zur Seite, damit ich nicht umfalle. Eine wollige Wärme durchströmt meinen Körper. Eine kuschelig weiche Decke bedeckt ihn und lässt mich einsinken in diese Ruhe der Nacht, die neben der Atmung und Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme die dritte Säule unserer Existenz darstellt: den Schlaf.
Plötzlich, wie in einem schlechten Traum: ein Hupkonzert. Ist es real oder nur ein Anflug von Halluzinationen. Ich reisse die Augen auf und sehe Scheinwerfer geradewegs auf mich zurasen! Ein Truck rollt mit mittlerer Geschwindigkeit direkt auf mich zu. Der Fahrer scheint sich keine Mühe zu geben, auszuweichen. Es gilt das Gesetz des Stärkeren. Mit einem grossen Satz springe ich zur Seite.
Was war passiert? Ich bin beim Gehen eingeschlafen. Mein Organismus hat sich genommen, was er gebraucht hat – während die Füsse stur weiter ihren Dienst taten. Schritt. Für Schritt. Für Schritt. Ein leiser Schock, der nachwirkt. Ich atme tief durch, suche Halt an den Stöcken, ringe um Klarheit. Für einen Moment stehe ich einfach nur da. Mit mir: die kalte Luft, der endlose Himmel, das Licht der Sterne. Es riecht nach Staub, Diesel, Erde und Leben. Mein Herz pocht noch immer zu laut. Ich bin wieder wach. Wach. Und dankbar.
Dankbar für diesen Körper, der noch funktioniert. Für diesen Moment, der mich aufgeweckt hat. Und für diese Herausforderung, die sich weiterzieht – hinein in eine Nacht, die mich nicht verschlingt, sondern trägt.
Irgendwo weiter oben, am Deepak-See, wollen wir unser erstes Nachtlager aufschlagen. So hatte ich es mit Rao abgesprochen. Hier oben gibt es einige Blechhütten – einfache Unterkünfte, in denen Reisende eine warme Mahlzeit und ein paar Stunden Schlaf finden können. Öffnungszeiten? Gibt es keine. Die Türen öffnen, wenn jemand wach ist.
Wir klopfen an die erste Hütte. Von innen brummt es mürrisch. Ein alter Mann antwortet knapp – ohne aufzustehen. Die Tür bleibt zu. Rao versucht es noch einmal. Wieder keine Reaktion. Der Schlaf des Mannes ist ihm wichtiger als unser Anliegen. Und wer will es ihm verdenken? Meine innere Uhr hingegen schreit nach Pause. Wir befinden uns in Stunde 27. Über 160 Kilometer liegen hinter mir. Ich kann mir keinen weiteren vorstellen – nicht ohne etwas Schlaf.
Dann, auf der anderen Seite des Sees, öffnet sich eine Tür. Eine Frau winkt uns herein. Sie ist freundlich, leise, effizient. Kocht eine einfache Maggi-Suppe, die ich gierig verschlinge. Kurz darauf falle ich auf den aufgeschütteten Erdwall – notdürftig ausgelegt mit dicken Wolldecken – und schlafe ein. Vier Stunden. Das ist der Plan.
Vier Stunden echte Ruhe pro Nacht – mehr nicht. Zwanzig Stunden in Bewegung, mit kleinen Pausen zum Essen und für Powernaps und vier Stunden richtige Erholung. Warum vier Stunden? Eine einfache Rechenaufgabe hat diesen Wert ergeben: total 480 Kilometer in 120 Stunden, also in fünf Tagen. Macht pro Tag grob 100 Kilometer. Also 100 Kilometer pro 24 Stunden. Bei einem Schnitt von 5 Kilometern pro Stunde – gerechnet inklusive Pausen, Anstiegen etc. – das sollte auch über die Dauer des Hell Ultra möglich sein. Demzufolge reichen mir 20 Stunden pro Tag, um diese 100 Kilometer zu absolvieren und im Zeitfenster von 120 Stunden zu bleiben. Die restlichen vier Stunden gönne ich mir und meinem Körper Ruhe.
Das ist die Strategie. Einfach, klar, hart. Und wenn sie hält, bringt sie mich ans Ziel.
Das war jedoch nicht mein einziges Konzept, als es an die Herangehensweise und Planung dieser Monsterreise auf zwei Beinen ging. Vor meinem Lauf durch 480 Kilometer Ewigkeit legte ich mir bewusst mentale Teilstrategien zurecht – wie Wegweiser für den Geist, verteilt entlang der unermesslich langen Strecke. Ich wusste: Der Körper würde an Grenzen stossen, doch es ist der Geist, der entscheidet, ob man stehenbleibt oder weitergeht. Jeder Abschnitt sollte von einer inneren Haltung getragen werden – einem klaren Fokus, der mich durch Höhen und Tiefen führt, durch Dunkelheit, Schmerz und Stille. So wurde dieser Lauf nicht nur ein physischer, sondern vor allem ein geistiger Pfad – strukturiert, achtsam und zutiefst verbunden mit dem Moment.
Für die ersten hundert Kilometer sollten die Stimmen meiner Kinder, und Erinnerungen an sie, mein Herz über den Asphalt und durch die Berge tragen – ihre Gedanken waren meine Kraft. Danach, zwischen Kilometer 100 und 200, leuchtete mir das Prinzip der Taschenlampe den Weg: mal als eng gebündelter Lichtstrahl, der sich ganz auf den gegenwärtigen Moment richtete – auf den nächsten Schritt, den nächsten Atemzug –, mal weit geöffnet, um markante Punkte der Umgebung zu erfassen, Orientierung zu finden im weiten, stillen Raum des Hochgebirges. So wanderte mein Bewusstsein zwischen Innen und Aussen, zwischen Konzentration und Weite – ein Prinzip, das im Buch „Mindfulness für Läufer“ eindrucksvoll beschrieben wird.
Von Kilometer 200 bis 300 tanzte mein Geist im Rhythmus des Atems, als wäre Ein- und Ausatmen das einzige Mass der Zeit. Om Mani Padme Om – ein Mantra trug mich wie ein leiser Gesang durch die Dunkelheit zwischen Kilometer 300 und 400, ein Klangteppich, der meinen Geist beruhigte und zugleich öffnete. Und schliesslich, auf den letzten, unendlich langen 80 Kilometern, wurde das einfache Zählen bis acht mein Anker, mein Puls, mein Schritt – eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht. Wieder von vorn. Eins, zwei, drei…
Bei einem Ultralauf jenseits aller Vorstellungskraft ist Achtsamkeit keine Technik, sondern Überlebenskunst. Der Körper schreit, die Strecke fordert, der Verstand droht zu zerfallen – und nur wer im Jetzt bleibt, kann weitergehen. Jeder Gedanke, der zu weit in die Ferne schweift, wird zur Last. Jede Unachtsamkeit kann zum Stolpern führen – mental wie physisch. Aufmerksamkeit ist der Faden, der alles zusammenhält. So lenkte ich meinen Geist durch diese Reise – wach, still, gegenwärtig – lange bevor der erste Schritt getan war.
Ein neuer Tag – ein neuer Anfang
Die Nacht am Deepak-See war kurz, aber ausreichend. Mein Körper weiss, dass er sich nicht beschweren darf. Vier Stunden – das ist der Deal. Kein Raum für Verhandlungen.
Die kühle Morgenluft zieht über das Wasser, feiner Nebel liegt auf der Oberfläche, als hätte der See in der Dunkelheit still geatmet. Die Hütte erwacht leise. Kein Motorenlärm, kein Rufen. Nur das leise Klappern von Metallgeschirr in der improvisierten Küche. Die Gastgeberin hält bereits warmen Tee bereit.
Ich setze mich auf, langsam. Der Körper führt wie automatisiert einen Check durch. Füsse, Beine, Schultern – alles da, alles müde. Und doch bereit.
Der Weg zum Baralacha La, dem nächsten mächtigen Pass beginnt mit einem flachen Anstieg, der sich bald in Serpentinen windet. Die Sonne steigt träge über die Gipfel und legt ihr fahles Licht auf die karge Hochgebirgslandschaft. Mit jedem Schritt wird die Luft dünner, der Atem flacher, das Denken stiller.
In Zing Zing Bar, einem dieser Orte, die in der vergangenen Nacht von den Gestrandeten der Sturzflut bevölkert war, traf ich zur Überraschung auf die Crew von Véro. Sie hat bereits unten in Darcha eine Schlafpause eingelegt und mich sozusagen im Schlaf überholt. Also während meines Zeitfensters in der Blechhütte.
Der neue Tag beginnt mit einem Tee – meist ein Chai Masala – und einem Toast Omelett. Dafür wird eine Scheibe Toastbrot durch verquirltes Ei gezogen und in der Pfanne oder auf einer Grillplatte gebacken. Im 80er Jahre Hollywood Blockbuster „Kramer gegen Kramer“ bekannt als Arme Ritter, ist diese einfache Speise bis heute eine typische Morgenmahlzeit im indischen Himalaya. Nährwert hin oder her – ein paar Proteine sind jedenfalls enthalten.
Die Flut hält Teile der Strasse noch immer fest im Griff. Es bleibt nichts anderes übrig, als durch das eiskalte Wasser zu waten. Nasse Füsse – bei den eisigen Temperaturen eine willkommene Erfrischung. Von Erfrierungen sind wir weit entfernt.
Ich mag den Baralacha La. Langgezogene Serpentinen mit geringem Höhenzuwachs. Die Berge öffnen sich und geben Weite preis. Der Pass selbst – fast 4900 Meter hoch – liegt wie eine Schwelle im Licht. Keine Bäume mehr, kein Schatten, nur Geröll, vereinzelte Schneefelder und die Ewigkeit der Berge.
Vor dem Pass überholt mich der erste Läufer der High 5 Starter. Ihr Tag begann in Zing Zing Bar und führt über 42 Kilometer hinunter nach Sarchu, dem Übergang vom indischen Bundesstaat Himachal Pradesh nach Ladakh.
Auf dem Pass bereits am Vormittag erste Touristenansammlungen. Hier sind sie also, die Tagesausflügler, die früher den Rohtang Pass zu ihrem Fotomotiv machten. Mit Freude berühren, tanzen oder liegen sie im Schnee. Bewohner Südindiens reisen gerne in diesen Teil ihres Landes, der sich so radikal von ihrer Heimat unterscheidet. Indien, so gross wie Europa, birgt eine unendliche Vielfalt an Landschaften, Klimazonen und Vegetationsstufen.
Ich überschreite den höchsten Punkt des Tages, nicht ohne ein Erinnerungsfoto zu machen, bevor der Abstieg beginnt. Furchteinflössender Pass Nummer zwei von fünf. Check.
Was sich nach Erleichterung anhören mag, ist oft die grössere Herausforderung. Die Muskulatur wechselt in den Bremsmodus, jeder Schritt nach unten ist ein kleiner Aufprall. Und plötzlich ist es da – aus dem Nichts: ein schmerzhaftes Stechen im Knie, wie mit einer Nadel, tief und reduziert auf einen Punkt. Dieser Schmerz ist mir nicht unbekannt. Er taucht auf, als wollten mir meine Strukturen sagen: „Mach mal langsam, es reicht bald. 200 Kilometer sind doch schon eine ganze Menge.“ Ich würde es am liebsten wegbeamen. Der Schmerz ist unangenehm, aber nicht zerstörerisch. Statt mich auf das Knie zu fokussieren, lenke ich meine Aufmerksamkeit auf die Schultern und Oberarme. Fühlt sich gut an. Keine Ermüdung hier zu spüren, alles läuft wie geölt. Diese Aufmerksamkeitslenkung macht das Stechen im Knie über einen längeren Zeitraum vergessen. Ich taste mich weiter, Schritt für Schritt. Langsam, vorsichtig — wie auf brüchigem Eis.
Sarchu! Die Landschaft hat sich gewandelt. Und ich habe mich verändert. 200 Kilometer liegen hinter mir — gefüllt mit unzähligen Eindrücken, kleinen Siegen und stillen Kämpfen. Jetzt zählt nicht mehr die Distanz, nicht mehr die Zahl der Kilometer oder die verbleibende Strecke. Es zählt nur noch, dass ich auf dem Weg bin. Auf meinem Weg.
Wenn ich hier Ajay nicht mehr nenne, dann nicht, weil ich ihn vergessen habe. Oder Véro, die ich irgendwo am Anstieg zum Baralacha La hinter mir liess. Nein — ich bin in einen anderen Modus eingetaucht, jenseits von Zeit, Raum und Wettbewerb. Eine Welt für sich, in der Worte kaum greifen.
It’s not a race — and it’s not for the weak of will!
Es ist kein Wettkampf. Es ist eine Reise, die mich gefangen nimmt, die mich verwandelt. Ich liebe es, unterwegs zu sein, in Bewegung, im ständigen Wandel. Warum also nicht auch einmal zu Fuss von Manali nach Leh? Diese Stunden in der Einöde, fernab von allem Vertrauten, schenken mir Gedanken, die im normalen Alltag niemals Platz hätten. Gedanken, die kommen und gehen wie die Wolken am Himmel, oder gar keine Gedanken — nur das reine Sein. Wenn es eine Steigerung von Flow gibt, dann habe ich diesen Zustand jetzt erreicht.
Die Zeit verliert ihre Schwere, fliesst mühelos dahin, wie ein klarer Gebirgsbach. Die Distanz, das Ziel, der Druck — all das löst sich auf. Ich werde eins mit dieser kräftezehrenden und zugleich kraftspendenden Bergwelt. Hier, inmitten von schroffen Gipfeln und endlosen Weiten, bin ich ein kleines Teilchen im grossen Ganzen. Ein winziger Punkt im weiten Kosmos, der dennoch ganz bei sich ist.
Es ist diese paradoxe Freiheit, die mich trägt: Gefangen in der Anstrengung, zugleich unendlich weit und frei. Auf diesem Weg, zählt nur das Jetzt. Jeder Schritt, jeder Atemzug, jede Sekunde.
Sarchu markiert mehr als nur einen Ort auf der Landkarte. Es ist eine Schwelle, ein Wendepunkt, ein Moment der Erkenntnis: Nicht das Ziel definiert diese Reise, sondern der Weg selbst. Und genau darin liegt ihre Schönheit.
Und Sarchu macht noch etwas ganz anderes mit mir: es lässt mich ankommen. Nicht am Ziel als solches, sondern im Distrikt Ladakh. Allein der Name klingt schon nach Heimat für mich. Ich kehre heim. Auch wenn der Weg noch weit ist, bin ich bereits da. Angekommen und zugleich bereit, weiterzugehen.
Es ist später Nachmittag. Ich liege auf einer dieser groben Wolldecken und döse halbwach vor mich hin. Zur Thukpa – der typisch deftigen Nudelsuppe Ladakhs – habe ich mir ein Omelett bestellt. Doch weder das Essen noch der Gedanke daran wollen so recht in meinen Magen. Die Hitze und die Anstrengung fordern ihren Tribut, und der Körper spricht eine klare Sprache und diktiert den Takt.
Bewusst habe ich mich nicht ins quirlige Quartier der High-5-Teilnehmer und der Veranstaltermannschaft begeben. Ich brauche Ruhe, die Stille und das Alleinsein, um mich zu sammeln. Alles andere macht mich nur nervös, raubt Energie, die ich nicht verschwenden kann.
Die Media-Crew ist nun immer häufiger präsent, mit Kameras und Mikrofonen – eine ständige Erinnerung daran, dass ich nicht nur mit mir unterwegs bin, sondern Teil des Great Himalayan Running Festivals. Ohne diese Erinnerung hätte ich es fast vergessen. Doch ich versuche, sie auszublenden, mich auf das Wesentliche zu konzentrieren: Funktionieren, nicht mehr, aber auch nicht weniger.
In Sarchu befindet sich einer der wenigen Kontrollposten, an denen der Veranstalter eine Cutoff-Zeit vorgibt. Innerhalb von 48 Stunden nach dem Start muss der Ort wieder verlassen sein. Mir bleiben noch etwa fünf Stunden, alles also noch völlig im Rahmen. Danach werden die Zeitfenster deutlich grosszügiger, doch hier spüre ich den Druck noch. Es ist ein fester Punkt auf der Strecke, an dem die Uhr tickt und die Verantwortung auf meinen Schultern lastet.
Mein Nervenkostüm ist in den letzten Stunden merklich dünner geworden. Nicht so sehr, weil mein Körper an seine Grenzen stösst – physisch fühle ich mich noch relativ stabil – sondern vielmehr, weil die Belastung für die Psyche um einiges intensiver ist. Jeder Schritt fordert nicht nur die Muskeln, sondern auch meinen Geist. Es ist ein ständiges Ringen um Fokus, Motivation und Gelassenheit.
Zwischen mir und Rao kommt es immer wieder zu kleinen Diskussionen. Er meint es natürlich nur gut, versucht mich zu schützen, gibt Ratschläge aus seiner Erfahrung. Doch ich habe meine eigenen Vorstellungen, meinen eigenen Rhythmus, meine eigene Art, mit dieser Herausforderung umzugehen. Dieses Aushandeln, das Abwägen zwischen Fürsorge und Eigenständigkeit, kostet mich Energie – Energie, die ich eigentlich lieber dafür nutzen würde, um mich mental auf der Höhe zu halten.
Aber so ist das Leben – auch abseits der extremen Belastungen wie diesem Lauf. Wir stossen immer wieder an Punkte, an denen wir uns mit anderen auseinandersetzen müssen, an denen Kompromisse nötig sind oder Konflikte entstehen. Wir sind Teil eines Geflechts, einer Gemeinschaft, in der Geben und Nehmen gleichermassen wichtig sind. Es ist ein Balanceakt, der nicht weniger herausfordernd sein kann als dieser Höllenritt hier durch die Berge.
Gata Loops – Genuss pur
Es ist längst dunkel. Die Hochebene von Sarchu erstreckt sich endlos vor mir, eine karge, prärieartige Weite, die im Mondlicht fast gespenstisch wirkt. Die Rücklichter unseres Toyotas schimmern in der Ferne wie kleine Glühwürmchen, die den Weg markieren. Mit Einbruch der Dunkelheit sind nur noch wenige Fahrzeuge unterwegs – zu riskant, diesen Abschnitt durch den Himalaya bei Nacht zu befahren. Immer wieder sehe ich die stummen Zeugen vergangener Unfälle: verrostete Wracks liegen an den steilen Seitenhängen des Highways, stumme Mahnmale für die Unberechenbarkeit dieser Route.

In meinen Gedanken habe ich die Situation vorab durchgespielt. Die Distanz bis zum nächsten Ort mit Dhabas wäre heute Nacht zu weit, zu anstrengend. Deshalb habe ich mich bewusst an diesem Punkt der Strecke entschieden, meine obligatorischen vier Stunden Schlaf im Auto zu verbringen – am Fusse der berühmten Gata Loops, der endlosen Serpentinen, die sich den Berg hinaufwinden.
Rao hat hinten im Toyota Platz gemacht, Taschen auf den Dachgepäckträger platziert und den Rücksitz umgeklappt, so dass ich mich zumindest einigermassen gestreckt in meinem Schlafsack ausbreiten kann. Erfahrungen aus vergangenen Abenteuertouren haben mich gelehrt: Schlafen geht überall, vorausgesetzt, die Müdigkeit ist intensiv genug, um dich zu überwältigen. Und genau darauf hoffe ich jetzt, auf die wohlverdiente Erholung – egal wo.
22.00 Uhr falle ich in einen tiefen, traumlosen Schlaf – den Körper eng umschlungen vom Schlafsack, den Geist leer, die Welt draussen abgeschaltet. Und doch: gefühlt im selben Moment rüttelt jemand sanft an meiner Schulter. Es ist Rao. Und es ist 02.00 Uhr. Vier Stunden sind vergangen. Nicht genug, um vollends regeneriert zu sein, aber ausreichend, um wieder klar zu denken. Ich fühle mich bereit. Kräftig genug, um die berühmt-berüchtigten Gata Loops in Angriff zu nehmen.
Dieser Weg, diese Serpentinen hinauf zum Pass Nakee La werden ihre Zeit fordern – ein endloses Band aus Kehren, das sich erbarmungslos in die Bergflanke schraubt. Eine Aufgabe, der ich mich gerne stelle. Kaku und Rao dagegen sollen noch ein paar Stunden Ruhe geniessen. Bislang war immer nur von meiner Erholung die Rede, vom Schlaf des Läufers. Doch beim Hell Ultra ist es mindestens genauso wichtig, dass auch die Crew ihren Rhythmus findet, ihre Energie bewahrt. Ohne ein funktionierendes Team geht hier gar nichts.
Noch eine kleine Anekdote aus der Nacht, die mir beim Aufwachen ein Lächeln ins Gesicht zaubert: Kaku liegt auf dem Fahrersitz, mit einer Tasche auf seinem Kopf. Um ihn herum ein Chaos aus Taschen und Ausrüstung. Hatte Rao die Sachen nicht gestern ordentlich auf dem Autodach platziert? Ja, hatte er – bis es in der Nacht plötzlich zu regnen begann. Ohne zu zögern hat er alles vom Dach geholt und ins Auto gebracht. Sorgsam, vorausschauend, verantwortungsvoll – das ist er ja, der Rao.
Im leichten Laufrucksack trage ich, wie immer, etwas an Notfallausrüstung, wie Rettungsdecke, Handschuhe, Bufftuch und Mütze und natürlich die zwei Flaschen mit dem energiespendenden Gemisch. Damit bin ich autark für die kommenden Stunden. Ausgerüstet. Entschlossen. Bereit.
Ich mag die Gata Loops. Dieses scheinbar endlose Hochkurbeln. Es hat etwas Meditatives. Ein Spiel mit der Gleichmässigkeit, ein Tanz mit der Müdigkeit. Die Nacht ist kühl, still, klar. Die Sterne zum Greifen nahe. Kein Laut ausser dem rhythmischen Tapsen meiner Schritte. Kein Ziel als das Weiter. Keine Frage ausser der, wo mein Atem als Nächstes hinfliesst. Immer wieder huscht ein Lächeln über mein Gesicht. Unsichtbar für Aussenstehende, Zufriedenheit spendend für mich.
Bis zum Morgengrauen begegnen mir gerade einmal zwei Lastkraftwagen. Sie gleiten wie schlaftrunkene Giganten durch die Dunkelheit, ihr Rumpeln verschluckt von der endlosen Stille der Berge. Ich sollte öfter in der Nacht hier unterwegs sein – im Schutz der Dunkelheit, wenn alles zur Ruhe kommt und die Welt sich auf das Wesentliche reduziert. Kein Lärm, keine Stimmen, kein Ziel ausser dem nächsten Schritt. Nur der Herzschlag, der Atem, das feine Knirschen der Sohle auf losem Stein. Absolute Stille – ein Raum, in dem Gedanken sich zurückziehen und nur das Dasein bleibt.
Noch vor dem Nakee La fegt der Toyota von hinten heran – sein Fernlicht wie ein Sternenfall in der Dunkelheit. Kurzer Stopp, Austausch der Flaschen, ein Blick, ein Nicken. Dann entlasse ich Rao und Kaku bis zur Passhöhe. Ich will diesen Abschnitt allein gehen. Ihn spüren, ihn würdigen.
Und jetzt verdient der Begriff „Höhe“ sein Prädikat. 4.900 Meter über dem Meer. Der Nakee La ist kein sanfter Übergang – er ist ein Prüfstein. Wie Bewegung hier überhaupt möglich sein kann? Eine Frage, die man sich nur stellt, wenn man stillsteht. Der Körper antwortet mit Taten.
Denn er lernt. Und er hört nie auf damit. Wir sind Geschöpfe der Anpassung, des Werdens. In jeder Zelle wohnt das Vermögen zur Wandlung. Unser System, hochkomplex und doch so instinktiv, kann sich beinahe allem beugen – der Kälte, dem Sauerstoffmangel, der Erschöpfung. Wir sind auf Überleben programmiert, aber unser Potenzial reicht weit darüber hinaus.
Und das endet nicht mit der Jugend. Nicht mit 40, nicht mit 60. Nicht einmal mit 80. Wir sind keine abgeschlossenen Werke. Wir sind immer im Entstehen. Immer im Versuch. Alles, was es braucht, ist Mut. Offenheit. Ein inneres Nicken, das sagt: Ich versuche es. Immer wieder.
Vom Nakee La geht der Blick weit hinaus – direkt hinüber zum nächsten mächtigen Übergang: dem Lachung La. Mein erster echter 5.000er. Ein Pass, der seiner Bezeichnung Würde trägt, ein Pass, der Respekt einfordert. Dazwischen liegt Whisky Nala, ein zerzauster Ort im Wind, nicht mehr als ein Streifen aus Teehütten und Blechdächern, eingeklemmt zwischen Geröll, Staub und Himmel. Rastplatz, Durchgangsort, Fluchtpunkt für frierende Chauffeure, die hier auf heissen Chai und dampfende Nudelsuppen hoffen.
Ich bleibe, wie ich bin – während sich um mich vieles verändert
Und dann: eine riesige Baustelle. Maschinen, die sich in das Gestein fressen. Sprengungen, Zäune, Stahlträger – ein Bild der Umwälzung. Der Leh-Manali-Highway verändert sein Gesicht. Der Rohtang Pass hat seinen Tunnel längst. Lachung La, Baralacha La – sie alle sollen folgen. Tiefer, schneller, sicherer. Der Plan: eine ganzjährige Verbindung. Was für viele wie Fortschritt klingt, hat tiefere Gründe.
Denn es geht nicht nur um den Tourismus, nicht um Selfies im Schnee oder kürzere Reisezeiten. Hier oben, in der dünnen Luft des Himalayas, denkt man in strategischen Kategorien. Es geht um Macht, um Verteidigung, um Versorgung. Indien, China, Pakistan – ein fragiles Dreieck mit jahrzehntelangen Spannungen. Und Ladakh, einst ein vergessenes Königreich, ist nun Teil dieses geopolitischen Schachbretts. Militärkonvois, Wachposten, Kasernen – sie säumen die Täler genauso wie die Zelte der Hirten.
Ich denke zurück an meine Schritte, an die Stille der Nacht. Und dann sehe ich die Maschinen, wie sie die Berge durchbohren – und frage mich: Entwickelt sich die Menschheit wirklich weiter?
Wir fliegen zu den Sternen, während wir uns gleichzeitig um Steine streiten. Terraforming auf dem Mars, aber keine Einigung auf Erden. Und manchmal scheint es, als hätten wir das Wesentlichste verlernt: in Frieden zu leben.
Whisky Nala – dieser staubige Fleck Erde irgendwo zwischen zwei Welten – hat mir gutgetan. Die warme Suppe dampfte mir das Leben zurück in die Glieder. Nicht viel, aber genug. Ein Schluck Geborgenheit im Nichts. Ich ziehe mir das Buff über Mund und Nase, die Luft schmeckt nach Diesel, Staub und Trockenheit. Kein Ort zum Verweilen, aber perfekt zum Weitergehen.
Der Anstieg zum Lachung La beginnt, fordernd, aber nicht feindlich. Ich laufe nicht – ich bewege mich. Gleichmässig, ruhig. Ohne Hast, aber mit Ziel. Die Zeit verliert ihr Mass. Kilometerangaben lösen sich auf. Es zählt nicht, wie spät es ist. Nur, ob ich meine Flaschen geleert habe. Zwei Stunden – das ist mein Taktgeber. Die Uhr meines Körpers. Der Rhythmus, in dem ich funktioniere.
Mit jedem Schritt lasse ich Ballast zurück. Reduktion auf das Notwendigste. Auf das, was trägt. Ich bin schmal geworden – nicht körperlich, sondern im Denken. Klarer. Ehrlicher. Die Welt schrumpft auf einen schmalen Grat zwischen Durst und Atem. Und darin finde ich etwas, das sich grösser anfühlt als alles, was Komfort verspricht: Freiheit.

Freiheit trotz eingeschränkter Reichweite. Zufriedenheit trotz des Ziehens in der Muskulatur. Tiefgang, obwohl der Schlafmangel alles flacher erscheinen lässt. Ich fliege nicht. Aber ich falle auch nicht. Ich gleite – Schritt für Schritt – aufwärts, als würde mich etwas ziehen. Nicht mit Kraft, sondern mit Sinn.
Dann, kurz vor der Passhöhe, der Blick zurück. Eines der Begleitfahrzeuge taucht auf. Aus dem Fenster winkt Véro. Siegerin ihres Rennens, erste Frau überhaupt, die sich dieser Distanz stellte und das Ziel der 135 Meilen erreicht hat. Ihre Geste ist leicht, aber sie trifft mich schwer. Nicht als Last, sondern als Geschenk. Respekt. Wertschätzung. Und die Erinnerung: Ich bin noch mittendrin.
Sie ruft mir zu, ich sei auf meiner Strasse. Und sie hat recht. Ich bin dort, wo ich hingehöre. In dieser kargen Höhe, wo der Wind nicht redet, sondern prüft. Wo es keinen Applaus gibt, nur Präsenz. Keine Streckenmarkierung, nur das Gefühl, richtig zu sein – genau hier. Genau jetzt. Das ist mein Moment. Und ich nehme ihn an.
Pass Nummer vier von fünf. Ich zähle nur jetzt, wenn ich hier vor dem PC den Text verfasse. Draussen auf dem Highway habe ich nicht gezählt.
Von den Impressionen her kommt nach einem langen Downhill eine der spektakulärsten Passagen auf der gesamten Route. Eine Sandwüste mit von der Natur geschaffenen Steinbögen, steil aufragenden Felswänden und kathedralen-artigen Gesteinsformationen an losen Sandhängen. Ein Schauspiel, in das ich mich gerne einfüge. Rao obliegt neben der Versorgung und dem Achten auf meine Sicherheit auch der Job meines individuellen Fotografen. Das Media Team des Veranstalters ist mir nach wie vor auf den Fersen. Rao ist aber einfach noch näher dran.

In Pang erreichen wir einen meiner Lieblingsorte am Leh-Manali-Highway. Nicht, weil er eine dekorierte Prachtallee oder einen Freizeitpark aufweisen kann. Nein, die Dhabas bieten feinste Hausmannskost. Zum Schlafen stehen richtige Zimmer zur Verfügung. Und eine Dusche! Das wäre für mich zu viel des Guten. Ich begnüge mich wieder einmal mit einer leckeren Nudelsuppe, Tee und dieses Mal etwas Gemüse. Im einem der Zimmer gönne ich mir eine Stunde Schlaf, bevor es wieder raus auf MEINE Strasse geht.
Mit den Moray Plains liegt ein etwa 40 Kilometer langes Flachstück auf einer Hochebene in 4.200 Metern vor mir. Ich will wieder mal ein gutes Stück rennen! Während der vergangenen Stunden (oder waren es Tage) war ich in schnellem Marschtempo unterwegs. Hier auf der Fläche sollte es möglich sein, ein etwas zügigeres Tempo anzuschlagen.
Am Himmel lose Bewölkung, die die Sonne etwas eindämpft. Dann, plötzlich, wie aus der Hölle geschickt, bäumt sich ein starker Wind auf. Ich hatte Kaku und Rao gerade weitere fünf Kilometer vorausgeschickt als ein eisiger Regen stecknadelartig auf mich niederging. Anhaltend, kein kurzer Guss. Der müde Körper erstarrt sofort. Mit leichter Windjacke versuche ich mich gegen den Willen der Natur zu stemmen. Zwecklos. Innert Minuten bin ich durch.
Kein Fahrzeug weit und breit. Kein Motorbrummen, kein Lichtkegel durch die graue Wand. Die Strasse, sonst nie wirklich leer, zeigt mir jetzt ihr anderes Gesicht. Und plötzlich bin ich allein. Richtig allein.
Eine dunkle Ahnung steigt in mir auf, langsam, fast würgend. Es ist kein klarer Gedanke, keine benennbare Angst. Nur ein Bild: Wärme. Ein Dach. Eine Hand. Der Wunsch danach wird grösser als ich selbst. Ich versuche, nicht weiterzudenken. Versuche, nicht zu fragen, was geschieht, wenn dieses Wetter bleibt – und niemand kommt. Aber da ist sie, die Angst. Nicht laut, nicht schreiend. Leise. Wach. Und seltsam nah.
Zitternd am ganzen Körper rede ich mir zu: Nicht stehenbleiben. Weiter. Weiter. Jeder Schritt ein Befehl, jeder Atemzug eine Prüfung. Minuten dehnen sich zu Ewigkeiten aus – Bibbern, Zögern, Erschaudern. Dann, endlich: zwei Scheinwerfer tauchen aus dem grauen Schleier auf.
Dieses Mal springe ich nicht zur Seite. Nein, ich halte stand, fast wie ein Tier, das sich an eine Rettung klammert. Am liebsten würde ich mich auf die Motorhaube werfen, nur damit man mich nicht übersieht. Das Fahrzeug stoppt bereitwillig. Drinnen: Kaku und Rao. Sie haben den Wetterumsturz natürlich mitbekommen, und sie lassen mich nicht allein. Dieses Vertrauen – in dieser trostlosen Weite – ist Wärme, noch bevor ich sie wieder in meinem Körper spüre.
Es kostet Kraft, die durchnässten Kleider vom Leib zu schälen. Stoff klebt wie Haut, Kälte wiegt wie Stein. Frische Kleidung inklusive Regenjacke und Regenhose ist dann schnell montiert. Ein neuer Schutz, ein schwacher Schild gegen das, was noch bleibt: die Kälte, die in jede Faser gedrungen ist und dort Stunden brauchen wird, bevor sie weicht. Diese Situation hat mich wieder daran erinnert, wie schnell sich im Hochgebirge die Verhältnisse ändern können. Ehrfürchtig denke ich bis heute daran zurück.
An Rennen ist nicht mehr zu denken. Diese kurze Zeit im Zorn der Elemente – nicht mehr als dreissig Minuten – hat mir mehr abverlangt als so mancher Tag auf der Strasse. Kälte zehrt nicht nur am Körper, sie frisst auch an der Seele. Ein leiser Raub von Kraft, unsichtbar, aber spürbar in jeder Zelle.
Ich atme tief. Suche meinen Fokus. Bündele, was noch in mir ist – nicht mit Hast, sondern mit Hingabe. Der Wille bleibt, auch wenn der Körper zögert. In der Ferne tauchen erste Zelte der Nomaden auf, verstreut über die weite Hochebene. Spuren von Leben in dieser stillen Welt. Mit ihnen zieht die nächste Dämmerung heran – wie ein Schleier, der sich über das Land legt.
Begegnungen der anderen Art
Die Gegend ist mir vertraut. Ich weiss, was hier auf mich wartet: Gatter nahe den Zelten, in denen Kühe, Ziegen und Schafe zusammengepfercht stehen. Und davor – nicht darin – die Hirtenhunde. Wachsame Schatten der Nacht. Mit dem Einbruch der Dunkelheit schärft sich ihr Gehör, ihr Instinkt, ihr Misstrauen. Für einen Fussgänger wie mich – allein, fremd, duftend nach Schweiss und Strasse – bin ich ein Ziel. Serviert auf dem Silbertablett. Hunde und Läufer – keine alte Feindschaft, aber sicher keine Freundschaft.
Etwas verschärft die Lage zusätzlich: Beim letzten Treffen hatte mir Rao noch hastig meine Stirnlampe überreicht. Ein kurzer Griff durchs Fenster, dann waren sie auch schon weitergefahren. Ich setze sie auf – schalte ein – und werde jäh ernüchtert: Die kleine Petzl blinkt dreimal, kurz, kalt. Warnung. Akku leer. Ein Detail, vielleicht – aber eines, das Gewicht hat. Rao hatte sie nach der vergangenen Nacht nicht geladen. Und nun stehe ich da. Im Dunkeln. Ohne Licht. Nur mit mir selbst.
Die Dunkelheit wirkt wie ein Verstärker. Als könnten Hunde darin besser sehen. Oder besser wittern. Vielleicht beides. Seit der Dusche in Jispa – am allerersten Tag – hat mein Körper kein Wasser mehr gespürt. Da haftet etwas an mir, das jeder instinktiv aufnimmt. Sie stürmen auf die Strasse. Mit lautem Geschrei mache ich mich bemerkbar. Im nächsten Moment eine leichte Erlösung – aus einer Hütte tritt ein Hirte, pfeift scharf, die Hunde zögern, weichen zurück. Noch einmal gut gegangen.
Doch ein paar Kilometer weiter, kurz vor Debring, ändert sich das Bild. Dort hört mich niemand. Dort reagiert keiner. Nur das Kläffen – laut, zornig, vielstimmig. Zwanzig, dreissig Hunde vielleicht. Eine ganze Meute umringt mich. Zähnefletschend, voller Argwohn, voller Kraft. Ich reagiere instinktiv: hebe meine Laufstöcke, halte sie wie Waffen, wie Antennen meiner Entschlossenheit. Sie zögern. Kommen näher. Ich hebe sie erneut. Sie weichen zurück.
Ein Tanz auf Distanz. Schritt für Schritt, rückwärts, im Rhythmus von Angst und Behauptung. Immer wieder das gleiche Spiel: ein Näherkommen, ein Innehalten, ein stummes Kräftemessen. Dann, plötzlich, ein Gedanke – vielleicht war es Eingebung, vielleicht nur Not: Ich ziehe mein Handy aus der Tasche, aktiviere die Taschenlampe. Nur ein schmaler Lichtstrahl, mehr nicht. Aber genug, um die Silhouetten meiner Stöcke in die Nacht zu brennen – grösser, gefährlicher, fast übermenschlich. Und das genügt. Die Hunde lassen von mir ab. Noch Kilometer später höre ich sie in der Ferne kläffen. Sie können sich nicht beruhigen. Oder sie erzählen sich noch immer die Geschichte dieses komischen Fremden, der in der Nacht allein hier auf dem Highway spazieren geht.
Fast am Ende von Debring – diesem langgestreckten Dörfchen an der Kreuzung zum Tsomoriri-See – brennt noch Licht. Eine kleine Hütte leuchtet warm in die Nacht. Ich frage mich, wann ich die letzte Kreuzung passiert habe. Oder ob es überhaupt je eine gab, die sich wie eine Entscheidung anfühlte.

Der Onkel wartet bereits. Als hätte er es gewusst. Mit einem breiten Lächeln tritt er aus seiner Dhaba heraus, drückt mir herzlich die Hand. Er erinnert sich – ich war schon zweimal hier in den letzten Jahren. Für ihn bin ich kein Fremder, nur einer der Rückkehrer. Wie ich diesmal hierhergefunden habe, interessiert ihn kaum. Er hat täglich mit Verrückten zu tun. Den guten Verrückten, wie er sagt. Solche, die sich Berge zumuten, die andere im Flugzeug überfliegen. Wer normal ist, kommt nicht zu Fuss.
Maggi-Suppe und Omelett – um 23 Uhr die perfekte Mahlzeit. Meine vier Stunden enden um 3 Uhr am Freitagmorgen. Gestartet sind wir Montagabend 22 Uhr. Bin ich wirklich schon 77 Stunden unterwegs? Es scheint so. Und dennoch: Mein Körper, mein Geist, sie sind noch immer dabei. Müde, ja. Aber klar. Überzeugt. Das hier ist kein Irrtum. Kein Fluchtversuch. Kein Beweis. Es ist einfach: richtig.
Vor mir liegt der nächste Aufstieg. Der höchste Pass der Strecke. Und mein liebster: der Tanglang La. Nur sechzehn Kilometer bis zur Passhöhe. Mit der ersten Morgendämmerung hinauf – das ist vielleicht der schönste Weg, einen neuen Tag zu beginnen.

Am Pass eine Überraschung: eine kleine Militärbaracke. Darin ein, zwei Männer in Uniform. Sie winken mich heran und laden mich zum Kaffee ein. Da kann ich kaum widerstehen. Der Tanglang La thront weit über allem, was der Leh-Manali-Highway sonst an Höhe zu bieten hat. Mit 5’320 Metern einer der höchsten befahrbaren Pässe der Welt – und ich sitze dort, die Finger um eine dampfende Tasse geschlungen, mitten zwischen fremden Menschen in fremden Gefilden, und doch ganz bei mir.
Die Sonne strahlt glasklar, als würde sie aus näherer Nähe scheinen. Die Luft ist dünn, aber mein Herz ist voll. Es ist einer dieser seltenen Momente, in denen alles stimmt. Kein Zweifel, kein Wunsch.
Ich möchte nirgendwo anders sein als genau hier. Jetzt. In diesem Augenblick auf dem Dach meiner Strasse.

An den folgenden Streckenabschnitt habe ich kaum verwertbare Erinnerungen. Die Strasse schlängelt sich wie ein Wurm den Pass hinab. Für zwanzig, vielleicht dreissig Kilometer ist die Strecke komplett einsehbar. Es geht zum schwindelig werden hin und her, ohne sichtbaren Raumgewinn. Ich komme vorwärts. Nicht mehr schnell, aber solide. In Rumtse wird es wieder Zeit für eine Dhaba. Wie sollte es anders sein: bei einer Nudelsuppe und einem Tee kann ich mich etwas von diesem frühen Ritt über den Tanglang La erholen. Mal kurz die Beine anheben und die Blutzirkulation bewusst wahrnehmen.
Den Rest des Tages verbringe ich damit, meinen Weg hinunter nach Upshi zu finden. Finden ist nicht das richtige Wort, nach wie vor kann man sich auf einer Strasse ohne grossartige Kreuzungen nicht verlaufen. Auf alles in allem 50 Kilometern (!) Downhill spüre ich nicht nur Sehnen und Gelenke. Auch die Kraft lässt Zusehens nach.
Diese Tage in der Abgeschiedenheit der Berge haben mir nicht nur läuferisch, sondern auch persönlich extrem viel abverlangt. Es bleibt viel Zeit zur Beschäftigung mit dir selbst. Körper und Psyche beginnen einen Dialog der Extreme. Die Muskeln brennen, die Gelenke protestieren, doch der Geist gibt immer wieder Willenskraft frei – über Schmerzgrenzen hinweg, durch Schlafmangel und Stille. Die Psyche taumelt zwischen Euphorie und Dunkelheit, zwischen Träumen im Gehen und Klarheit im Moment. Man verliert sich, um sich neu zu finden. Der Körper wird müde, die Seele wach. Und irgendwo zwischen dem Start und den finalen Kilometern wächst etwas in dir heran, das stärker ist als Erschöpfung: eine tiefe innere Zufriedenheit, geboren aus der Stille, die entsteht, wenn alles Überflüssige von dir abfällt. Dieser Lauf hat mir gezeigt, was möglich ist, wenn man körperliche Vorbereitung mit mentaler Stärke und Leidenschaft verbindet.
Die Frage aller Fragen – schuldig bleibt die Antwort
Und es ist noch nicht vorbei. Eine Schlüsselsituation erlebe ich in einer kleinen Dhaba mitten in Upshi. Während ich halbschlafend meine Suppe schlürfe – weit entfernt von irgendeiner Komfortzone – beobachtet mich die Betreiberin des Wirtshauses. Auf Ladakhi fragt sie meine Betreuer etwas. Ohne Vorwurf, ganz leise: „Why is he doing this?“ Ich hebe den Blick. Sehe sie an. Sage nichts. Nur ein müdes, erschöpftes Lächeln.
Denn es gibt keine Antwort. Nicht jetzt. Vielleicht nie.
Ich bin längst ausserhalb meines Körpers angekommen. Meine Gedanken reichen gerade noch für das Nötigste. Für einen Schritt, vielleicht zwei. Aber nicht für diese Frage. Nicht für das, was sie wirklich meint. Denn manchmal reicht eine Frage so tief, dass jede Antwort zu klein wäre.
Es fällt mir schwer, mich aufzuraffen. Weiterzugehen. Ich zweifle nicht, und doch scheint jeder Schritt wie aus Blei gegossen. Meine Beine sind schwer, mein Geist gedämpft, mein Wille – noch da, aber wie unter einer dicken Decke aus Müdigkeit verborgen.

Und trotzdem gehe ich. Nicht aus Pflicht, nicht aus Starrsinn, sondern weil irgendwo tief in mir eine kleine Flamme weiterbrennt. Leise, aber beharrlich. Sie flüstert: Nur ein Schritt. Dann noch einer. Bis der nächste Horizont kommt.
Wir sind im Tal des jungen Indus angekommen. Der Fluss zieht sich wie eine Lebenslinie durch das Herz Ladakhs – ruhig, kraftvoll, beständig. Es sind nur noch weniger als fünfzig Kilometer bis zur Shanti Stupa in Leh. Mir wird zum ersten Mal seit dem Verlassen Manalis die Tragweite dieses Projekts bewusst. Nicht die absoluten Kilometer sind entscheidend, sondern das, was du auf diesen erlebst. Was du bereit bist anzunehmen.
Es ist kurz nach 20 Uhr, die Dunkelheit hat sich wieder schwarz über die Landschaft gelegt. Es geht in die vierte Nacht. Oder ist es die fünfte? Egal. Der Rhythmus meines Lebens wiederholt sich – doch jedes Mal mit einer anderen Melodie, einem neuen Schatten. Ich treffe eine Entscheidung, die meinen bisherigen Plan sprengt, vielleicht folgenschwer, vielleicht ein Fehler im grossen Ganzen. Wie bei der unergründlichen Frage „Warum?“ werde ich die Antwort wohl nie finden. Ich durchbreche den Takt meines vierstündigen Schlafrhythmus und wähle stattdessen kurze, flüchtige Nickerchen im Auto oder am Strassenrand, um den Rest der Strecke zu bewältigen.
Und taumele dazwischen durch eine endlose Nacht. Ich kann mich sehen, vor meinem inneren Auge. Meine Erschöpfung, das von Müdigkeit zerfurchte Gesicht, geschwollene Augenlider. Ich bin in diesen wenigen Tagen um Jahre gealtert. Gleichzeitig bewahre ich mir diese kindliche Neugier. Es reizt mich immer, hinter die nächste Kehre, die nächste Bergkuppe zu schauen. Es gibt noch viel zu entdecken.
Momentan liegt meine Hauptaufgabe darin, einen Fuss vor den anderen zu setzen. Manchmal weicht ein Schritt nach rechts aus, dann wieder einer nach links – kleine Korrekturen im endlosen Takt der Bewegung. Ich gönne mir diese winzigen Aussetzer in der unaufhörlichen Abfolge von Fussabdrücken auf dem gnädigen Asphalt.
Die Strasse ist gut zu mir. Sie nimmt mich, wie ich bin. Sie stellt keine Fragen, sie verlangt keine Erklärungen. Sie zeigt mir den Weg, auch ohne GPS-Daten. Sie akzeptiert – bedingungslos. Genau das, was ich in diesen fortschreitenden Stunden brauche.
Es ist eine harte Phase. Die härteste bisher. Nicht wegen der Kilometer. Nicht wegen der Gesamtzeit. Es ist diese Müdigkeit, die mich überfällt wie eine Welle – immer wieder. Ich bin nur noch halb wach. Alles läuft mechanisch ab. Wo früher ein Lächeln meine Lippen streifte, liegt jetzt nur noch ein matter Zug – wie eine Erinnerung, die sich weigert zu vergehen. Ein Echo der Müdigkeit hat sich in mein Gesicht gegraben.

Immer wieder sitze ich auf der Ladeluke im Kofferraum unseres Fahrzeugs und koste die wenigen Minuten, in denen ich nicht stehen muss. Irgendwann geht gar nichts mehr. Ich erlaube mir einige Minuten Schlaf – aufrecht, im Beifahrersitz. Klare Regel des Veranstalters: Sobald der Läufer im Auto ist, bleibt das Fahrzeug stehen. Hätten sie es trotzdem bewegt – ich hätte es nicht bemerkt. Sie hätten über Buckelpisten fahren können, ich wäre in meinem Halbschlaf geblieben, irgendwo zwischen Jetzt und Nirgendwo.
Einmal jedoch, ich bat Rao, mich nach zwanzig Minuten zu wecken, versank ich tiefer. Nicht in Ruhe – in Abwesenheit. Etwas in mir schreckt plötzlich hoch. Ich reisse die Tür auf, springe hinaus. Ich habe verschlafen! Wie lange sitze ich schon hier? Ich müsste längst wieder unterwegs sein.
Rao schaut mich an, verwundert. „Wo willst du hin?“ fragt er ruhig.
„Ich muss los“, sage ich.
Seine Stimme ist ruhig wie stehendes Wasser: „Setz dich wieder hin. Du hast gerade mal zwei Minuten geschlafen.“
Und in diesem Moment verliere ich endgültig mein Gefühl für Zeit. Für Raum. Für alles.
Leh – eine entfernte Vertraute
Mit aufkommendem Tageslicht verbessert sich mein Zustand etwas. Es ist erstaunlich, was die Sonne in uns bewirken kann. Diese innere Uhr, der Biorhythmus wird dank der erleuchtenden Strahlen aktiviert. Ich fange mich, bin wieder präsent. Ich nehme die Umgebung wahr. Dieses Tal, dass ich so schätze. Das Stakna Kloster, wie es über der Ebene thront. Weiter vorn Thiksey. Alles vertraute Orte. Orte, die Erinnerungen und Lebensgeister in mir wecken. Ich bin auf dem Weg nach Hause.

Es geht plötzlich schnell. Nicht schnellen Schrittes. Ein schnelles Vorankommen fällt mir nach wie vor schwer. Nein, die Zeit, die Szenerie rast an mir vorbei – als hätte jemand die Fast-Forward-Taste gedrückt. Da ist schon der Flughafen von Leh. Hoch oben über der Stadt leuchtet die Shanti Stupa in ihrem strahlenden Weiss mir den Weg – ohne Worte, ohne Zweifel. Nur noch den Ort Spituk durchqueren – und dann beginnt er: der finale Anstieg. Acht Kilometer entlang dieser lärmenden, von Abgasen geschwängerten Strasse, direkt an der Flughafenmauer. Der Weg zieht sich, stetig bergauf. Keine Verschnaufpause. Kein Schatten.
Aber etwas in mir hat umgeschaltet. Meine Schritte werden schneller, Fordernder. Die Stöcke geben einen unüberhörbaren Takt auf dem Asphalt vor. Ich marschiere. Erhobenen Hauptes.

Immer wieder hupende Autos. Begeisterte Insassen winken, rufen mir Worte zu, die ich kaum verstehe. Einige klatschen, recken Daumen aus den Fenstern. Es ist wie ein stilles Fest, das sich um mich legt – laut in den Geräuschen, aber leise in der Seele. Diese kurzen, flüchtigen Gesten – sie tragen mich. Sie machen den Lärm erträglich, verwandeln den beissenden Gestank der Abgase in etwas Nebensächliches.
Ich weiss nicht, ob sie verstehen, was ich hier tue. Vielleicht sehen sie nur einen erschöpften Menschen mit Stöcken. Vielleicht aber erkennen sie etwas in meinem Blick – den Willen, das Ziel. Vielleicht erkennen sie sich selbst darin.

Es fühlt sich an, als würde mich die Stadt selbst nun anfeuern. Als hätte sie mich geprüft, mich zermürbt – und nun anerkennt, dass ich geblieben bin. Nicht abgebrochen. Nicht umgekehrt.
Nur noch wenige Kilometer. Und jeder Schritt trägt das Gewicht von Tagen – und zugleich die Leichtigkeit dessen, was bald vorbei ist.
Die letzten Kehren vor der Stupa lassen zehn Jahre aufleben. Emotional, tiefgründig – wie im Zeitraffer ziehen meine Besuche an mir vorbei. Nicht in klaren Szenen, sondern in Momenten: Bildfetzen von Begegnungen, Lächeln, Stimmen im Wind. Menschen, die mir die Tür geöffnet, Wasser gereicht, ein einfaches Mahl geteilt haben. Fröhliche Gesichter. Liebgewonnene Freunde.
Ich komme nur einmal im Jahr. Und doch ist es jedes Mal, als wäre ich nie fort gewesen.
Was ist Heimat? Vielleicht ist es genau das: Nicht der Ort, an dem man wohnt – sondern der Ort, an dem man erwartet wird. Ein Platz, an dem dein Kommen kein Ereignis, sondern eine Selbstverständlichkeit ist. Wo dein Name nicht vergessen wurde. Wo du nicht erklären musst, wer du bist.
Heimat kann sich verändern. Sie kann wandern. Manchmal liegt sie zwischen Bergen. Manchmal in einer Geste. Manchmal in einem Blick, der dich erkennt, bevor du sprichst. Ich frage mich, ob es möglich ist, mehrere Heimaten zu haben. Oder ob es vielmehr ein Gefühl ist, das sich an verschiedenen Orten einnistet – weil man dort ein Stück von sich gelassen hat.
Hier, kurz vor dem Ziel, spüre ich: Ich habe etwas zurückgelassen. Und ich habe etwas mitgenommen. Jahr für Jahr.
Jetzt kehre ich zurück – nicht nur an einen geografischen Punkt, sondern in eine Version von mir selbst, die ich hier entwickelt habe.
Die Emotionen übermannen mich. Tränen steigen auf, und ich lasse sie. Dürfen Männer Tränen zeigen? Aber natürlich. Alles muss raus. Alles im richtigen Augenblick.
Diese Reise zu Fuss quer durch den Himalaya hat mir so viel abverlangt, dass ich mir jetzt alles erlauben darf. Und alles erlauben will. Und es mir zugestehe.
Mit etwas Wehmut strecke ich das Zielbanner in die Höhe. Am Ziel – und doch niemals angekommen. Das ist es, was mir durch den Kopf schiesst. Ich will nie endgültig ankommen. Es bleibt immer etwas Courage, immer eine Flamme, die für ein nächstes Abenteuer brennt.
Und so stehe ich hier, die Stupa im Rücken, den Himalaya vor Augen, Tränen auf den Wangen – ein Mensch, der angekommen ist, um weiterzugehen.
Ziel erreicht – was bleibt
109:22:54 Stunden. In diesem Jahr der einzige Starter, überhaupt erst der Sechste, der das Ziel im geforderten Zeitfenster von 120 Stunden erreicht. Platz 1 beim Hell Ultra 480, 2025. Doch der Sieg ist nicht der grösste Gewinn. Was bleibt, ist die Frage aus Upshi. Die Erinnerung an den Rohtang Pass bei Sonnenaufgang. Die Dialoge zwischen Körper und Geist. Die Stille der Gata Loops. Der Wahnsinn des ungezügelten Verkehrs. Die Momente, in denen der Körper krampfhaft versucht abzuliefern, der Kopf aber nicht imstande ist, Schritt zu halten. Dieses unendlich scheinende schwarze Band, dass mir mehr als nur die Richtung wies – der Leh-Manali-Highway in seiner echten Form. Der Zeitraffer bei Erreichen des Zieles.
Und das Gefühl, dass etwas in mir sich verschoben hat. Nicht zerbrochen – sondern neu zusammengesetzt.
Ajay konnte auch in diesem Jahr nicht die gesamte Strecke bewältigen. Und Véro ist nach ihrem erfolgreichen Absolvieren der halben Distanz mehr als zufrieden. Werden beide wiederkommen und das Projekt Hölle 480 annehmen?
Ach ja, etwas noch: auch nachdem die Ziellinie längst hinter mir lag, hallte der Lauf in meinem Körper nach – wie ein leises Echo der Berge, das nicht verstummte. Die trockene, wüstenartige Höhenluft hatte meine Atemwege tage- und nächtelang herausgefordert, bis die Schleimhäute brannten, rissen, bluteten – meine Nase wurde zum ständigen Mahnmal der dünnen Luft. Und als wäre das nicht genug, brannte die Sonne erbarmungslos vom Himmel herab. Trotz sorgsamer Pflege, trotz Salben, Cremes und hohem Sonnenschutz hinterliessen ihre Strahlen Spuren: aufgeplatzte Lippen, wund und spröde – Zeichen der Kraft jenes ewigen Feuers am Himmel. Erst vier Wochen später war ich davon völlig befreit. Ich hatte alles getan, um vorzubeugen. Doch die Natur kennt keine Verhandlungen. Sie zeigt dir – liebevoll und unerbittlich zugleich – wer am Ende die Regeln aufstellt.
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Fakten
- Event: Hell Ultra 480 – Himalaya
- Veranstalter: The Hell Race
- Land: Indien
- Start: Manali 2.050 m
- Ziel: Shanti Stupa, Leh 3.600 m
- Distanz: 480 km
- Höhenmeter: ca. 9.000 m
- Cut Off Zeit: 120 Stunden
- Laufzeit: 109:22:54 Stunden
- Platzierung: 1. Platz 2025
- Schlaf ungefähr 14 Stunden gesamt
- Herausforderungen: Höhenlage, Kälte, Hitze, mentale Isolation
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Highlights
- Das pulsierende Manali (wer’s mag)
- Rohtang Pass 3.978 m
- Baralacha La 4.850 m
- Gata Loops 21 Haarnadelkurven
- Nakee La 4.903 m
- Lachung La 5.065 m
- Tanglang La 5.317 m
- Die Menschen, die an und von der Strasse leben
- Permanente Anfeuerung aus den vorbeiziehenden Fahrzeugen
- Nächtliche Stille unter dem Sternenzelt
- Unendlich scheinende letzte Teil der Strecke im grünen Industal
- Ziel an der Shanti Stupa
Entdecke das Thema Achtsamkeit beim Laufen (erschienen 2025 im Meyer & Meyer Verlag)
Epilog – Warum?
Ich weiss es noch immer nicht. Ich stelle mir die Frage auch nicht. Vielleicht wäre die Antwort zu einfach und das Einfache reizt mich nicht besonders. Mal loszulaufen und schauen, wohin der Weg führt. Ohne Fragen, mit offenem Geist. Und wenn ich sie stellen würde, dann nicht, um sie zu beantworten.
Auch das Leben schickt uns oft ohne Erklärung weiter. Wir stolpern, fallen, stehen auf mit blutigen Knien und gehen trotzdem weiter. Im Buch Ein Marathon geht immer habe ich meine persönliche Geschichte eines Lebenswandels hin zu einem zufriedenen, aktiven Lebensstil ausführlich verarbeitet. Das „Warum“ ist also gar keine Frage. Es ist vielmehr ein leiser Takt in unserem Inneren, der sagt: Lauf, weil du lebst. Lauf, weil du fühlst. Lauf, denn jeder Schritt ist ein Vers im Gedicht deiner Existenz.
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„The lady at the Dhaba in Upshi asked the right question – why am I doing this? I still don’t have the answer. I guess we will never have.“
— Maik Becker, am Ziel des Hell Ultra 2025
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Warum man sich so etwas antut? Grundsätzlich stelle ich mir diese Frage nicht. Die Antwort wäre zu einfach: Ein 480 Kilometer Lauf ist mehr als ein physischer Kraftakt – es ist ein Auflösen dessen, was man für Grenzen gehalten hat. Der Körper kämpft, leidet, trägt dich weiter, obwohl alles in dir schreit, stehenzubleiben. Die Psyche wird auf die Probe gestellt, Tag für Tag, Stunde für Stunde – bis nur noch der pure Wille bleibt. Und irgendwann, jenseits der Erschöpfung, wenn alles fokussiert ist auf den nächsten Schritt, die nächste Mahlzeit, das nächste Stück Weg – genau dort entsteht eine seltsame Klarheit. Ich tue das nicht, um anzukommen. Ich tue es, weil ich lebe. Weil ich es liebe. Weil ich alles fühle – Schmerz, Freude, Zweifel, Weite. Weil in diesen Momenten der völligen Reduktion etwas passiert, das im Alltag verloren geht: absolute Freiheit. Kein Lärm, keine Ablenkung, nur der Weg und ich. Das Leben dreht sich für einen Moment nur um das Wesentliche – das Sein im Jetzt.
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Fotos: The Hell Race
